Die Presse am Sonntag

ABU SALEM

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Der warme Abendwind fährt durch die Palmen am Strand und bläst Sand in den Vorgarten. „Heute fährt kein Boot nach Lampedusa, das Wetter ist zu schlecht“, stellt Abu Salem auf der Terrasse seiner großzügige­n, zweistöcki­gen Villa fest. Er zeigt auf das Meer hinaus zu den hohen Wellen, deren weiße Gischt in der Dunkelheit zu erkennen ist.

Abu Salem weiß, wovon er spricht. Er ist ein Menschensc­hmuggler, der Flüchtling­e über das Mittelmeer illegal nach Europa bringt. Sein Standort ist Zuwara, eine Hafenstadt an der libyschen Küste, von der es nur 154 Seemeilen, umgerechne­t 291 Kilometer, nach Italien sind. Das ist die kürzeste Fahrtstrec­ke von Libyen nach Europa. „Das wissen die Flüchtling­e natürlich“, erklärt Abu Salem. „Sie kommen aus ganz Afrika zu uns, auch aus Syrien oder sogar aus Bangladesc­h und Pakistan. Und sie werden immer mehr, denn hier in Zuwara fahren wir das ganze Jahr hindurch, ohne Pause.“ Schwierige­r unter Gaddafi. Der 38-Jährige ist seit 2005 „im Geschäft“und will rund 45 Boote über das Meer nach Italien geschickt haben. 2013 seien es bisher fünf gewesen. „In der Zeit Muammar Gaddafis war alles viel schwierige­r“, erzählt Abu Salem. „Man musste übervorsic­htig sein, viel Geld für die Bestechung von Polizei, Militär und Geheimdien­st ausgeben.“Aber heute, nach der Revolution, sei alles einfach geworden. „Es gibt kein Regime mehr, das alle überwacht, und die neuen Sicherheit­sbehörden sind klein und chancenlos“, merkt er lächelnd an.

Vor der Küste Zuwaras hatte ein Teil der Migranten das Unglücksbo­ot bestiegen, das am 3. Oktober vor Lampedusa sank. Dabei starben 359 Menschen. Abu Salem behauptet, bei ihm habe es noch nie einen Unfall gegeben. „Andere stecken 200 Menschen auf ein

»Der Kapitän weiß nicht, was er tut; der Mechaniker kann keine Maschine reparieren.«

18 Meter langes Boot. Bei mir sind es nur 180. Ich überlade meine Boote nicht.“Bequem sei das nicht, aber er sei ja auch kein Flugkapitä­n, der eine angenehme Reise verspreche, fügt er hinzu. „Fehler macht nur die neue, junge Generation der Schmuggler“, sagt der 38-Jährige. „Sie haben keine Erfahrung und denken nur ans Geld.“

Das behauptet auch Faraj, ein „Geschäftsk­ollege“, der seit 2003 weit über 70 Boote nach Italien schickte. 2013 sollen es allein zwölf gewesen sein. Das letzte davon sei im September ausgelaufe­n. „Der Kapitän weiß nicht, was er tut; der Mechaniker kann keine Maschine reparieren.“So kämen die Schiffsung­lücke zustande. Faraj vergisst dabei zu erwähnen, dass der Kapitän und der Maschinist, die meist aus Ägypten oder Tunesien stammen, keine Profis sind. Sie werden in zwei, drei Tagen im Umgang mit GPS, Satelliten­telefonen und Motoren trainiert. „Sie bekommen eine Decke über den Kopf und lernen so, sich mit dem GPS-Gerät zurechtzuf­inden.“

Kapitän und Maschinist sind bis zur Abfahrt getrennt von der „Fracht“– den Migranten – untergebra­cht. Die Flüchtling­e werden in einer Lagerhalle oder in alten, verlassene­n Häusern kaserniert. Je nach Größe des Boots sind es zwischen 70 und 500 Menschen. Ob Männer, Frauen oder Kinder, niemand darf das „Frachtlage­r“verlassen. Mobiltelef­one werden abgenommen. Jede Kommunikat­ion mit der Außenwelt ist verboten. „Das kann eine Woche oder zwei Monate dauern“, erklärt Faraj. Das hängt von Logistikpr­oblemen und dem Wetter ab. Zum Zeitvertre­ib gibt es nur einen Fernseher. „Das ist wie im Gefängnis“, gibt der 45-Jährige unumwunden zu. Es gebe nur eine einzige Toilette, die nicht funktionie­re. Der Gestank sei unerträgli­ch. Reibereien seien an der Tagesordnu­ng, je länger die Wartezeit dauere.

„Ich konnte die Türe oft nur mit einem Dobermann-Kampfhund aufmachen“, erinnert sich Faraj. „Aber es geht nicht anders. Schließlic­h arbeiten wir in der Illegalitä­t.“Heute hat Faraj mit den Migranten persönlich nichts mehr zu tun. Er ist wie ein Grossist, der „Frachtkont­ingente“von seinen Kontakten in Ägypten, Sudan, Marokko oder Tschad kauft und sie von lokalen Repräsenta­nten „verarbeite­n“lässt. Das Geld dafür wird über Hawala – ein informelle­s, privates Überweisun­gssystem – bezahlt, das wie Western Union funktionie­rt. Zusätzlich­e Tortur. Für die Migranten ist die Inhaftieru­ng eine zusätzlich­e Tortur. Sie waren oft ein, zwei Monate unterwegs, um nach Zuwara zu kommen. Der überwiegen­de Teil muss in Libyen erst das Geld für die Überfahrt erarbeiten. Das kann ein, zwei Jahre dauern. Im Zentrum von Zuwara ist Ibrahim aus dem Niger einer von vielen Migranten, die an der Straße auf Arbeit warten. „An einem guten Tag verdiene ich 30 Euro auf dem Bau“, erklärt er. „Ich muss Geld nach Hause schicken, hier leben und etwas für die Fahrt nach Italien zurücklege­n.“Sein ältester Bruder hat in seinem Heimatdorf Taua, in der Nähe von Agades, für die Reise nach Libyen einen Kredit aufgenomme­n. „Wenn ich nicht nach Italien komme, ist es ein Desaster.“Der Sohn eines Bauern wurde, wie allen anderen Migranten, von einem Landsmann in Libyen von Ort zu Ort dirigiert.

Faraj und Abu Salem sind mit dem Migrantens­chmuggel reich geworden. Sie haben große Häuser, neue Autos und ein gut gefülltes Bankkonto. „Ich fahre nur Mercedes“, sagt Faraj und zeigt den Stern auf seinem Autoschlüs­sel. Zwischen 700 Euro und 900 Euro kostet die Überfahrt. Kinder und Erwachsene zahlen den gleichen Preis. Nur für Babys ist es gratis, wenn sie von den Müttern im Arm gehalten werden können. Von den Migranten wird abkassiert, bevor sie im „Frachtlage­r“ein- gesperrt werden. „Natürlich mag ich das Geld, aber wenn mich Migranten aus Italien anrufen und sich bedanken, wird mir warm ums Herz.“Er sei der einzige Schmuggler, der Schwimmwes­ten an seine „Fracht“ausgebe.

Faraj fährt mit jedem seiner Boote bis zur Grenze der internatio­nalen Gewässer, um sicherzuge­hen, dass sie auf richtigem Kurs liegen. Von da an übernehme ein „Operations­team“das Schiff. Über das Satelliten­telefon gibt der Kapitän alle zwei, drei Stunden seine Koordinate­n durch. Am Computer wird seine Position auf Seekarten verglichen und notfalls korrigiert. Sobald Italiens Küste in Sicht ist, werden GPS, Satelliten­telefon und SIM-Karte getrennt ins Wasser geworfen. Im Operations­raum sitzt neben dem Koordinato­r und Faraj auch der Bootsbesit­zer. Er bekommt die 45.000 Euro für sein Schiff nur dann, wenn die Überfahrt glattgeht und der Motor keinen Schaden nimmt. Ansonsten geht er leer aus.

Normalerwe­ise dauert die Überfahrt auf einem Fischerboo­t nicht länger als 18 Stunden. Faraj lässt Benzin für 24 Stunden, Wasser und Verpflegun­g für sechs Extratage auf die Schiffe laden. „Das machen die neuen, jungen Kollegen nicht“, betont der altgedient­e Schmuggler. Für die Menschen auf dem Boot, das im Oktober vor Lampedusa kenterte, wäre selbst Farajs vermeintli­che Großzügigk­eit bei Weitem nicht ausreichen­d gewesen. Die Migranten waren insgesamt 13 Tage auf ihrem Schiff unterwegs, weil die Maschine ausgefalle­n war. Überforder­t. „Wir sind hoffnungsl­os überforder­t“, gibt Abubakar al-Idrissi von der Polizei in Zuwara zu. „Wir haben nicht genug Personal, zu wenige Autos und Schiffe, um unseren Küstenstre­ifen von 110 Kilometern zu überwachen.“Er fährt zum Machuk-Strand, an dem sie vor drei Monaten eine tote schwangere Frau fanden. Der 32-Jährige erzählt: „Mir haben Migranten berichtet, dass Menschen oft ins Meer geworfen werden, wenn zu wenig Platz ist.“In Zodiac-Schlauchbo­ote mit schnellem Außenbordm­otor würden oft 70 Menschen gequetscht, obwohl nur Platz für ein Drittel davon wäre.

Allein heuer hat die Polizei in Zuwara 45 Zodiacs und 25 Fischerboo­te konfiszier­t. Von den etwa 7000 Flüchtling­en, die darauf nach Italien wollten, wurden 2000 verhaftet. „Wir haben so wenig Personal, dass die meisten Leute

Schlepper am Strand entwischen können.“

Hilfe von der EU habe seine Polizeista­tion nicht bekommen. Er meint damit die Eubam, deren Vertreter seit April in Tripolis sind. „Wir können nicht alles gleichzeit­ig machen“, erläutert dagegen Antti Hartikaine­n, der Leiter der EU-Mission für integriert­es Grenzmanag­ement. „Wir haben in verschiede­nen Städten zweitägige Trainingsk­urse für Grenzperso­nal abgehalten.“Die Eubam sei ein langfristi­ges, auf Jahre hin ausgelegte­s Programm. Schließlic­h hat Libyen eine 1880 Kilometer lange Küste und 4500 Kilometer Landesgren­zen. Schokocroi­ssants statt Jeeps. „Die Seminare der EU sind sinnlos“, meint Oberst Abdellatif Abulamusch­a, der Chef der Behörde für illegale Immigratio­n in Tripolis, die für die Registrier­ung und Deportatio­n von Migranten zuständig ist. „Um dem Problem wirklich zu begegnen, müsste man das Hauptquart­ier im Süden Libyens installier­en.“Der Oberst legt eine Landkarte auf den Schreibtis­ch und deutet auf die beiden Wüstenstäd­te Sebha und al-Kufra, die als Transitpun­kte für alle Migranten dienen, die die Sahara durchquere­n. „Von der EU haben wir außer 250 Schachteln mit Schokocroi­ssants nichts erhalten“, behauptet der Oberst. Dazu habe es einige T-Shirts mit EUEmblem gegeben. Man bräuchte Geländewag­en, Hubschraub­er und Boote.

In der ehemaligen Polizeikas­erne in Tweischa nahe Tripolis sind rund 400 Flüchtling­e nach Nationalit­äten in verschiede­nen Hallen untergebra­cht. „Sie bleiben oft ein Jahr, bis sie mit dem Bus an die Grenze in der Sahara gebracht und abgeschobe­n werden“, sagt Ahmed Salama, der Kommandant des Lagers. „Hier haben wir 120 Äthiopier und Somalier.“Mehrere der Interniert­en sagen: „Wir wollen nach Hause. Wir sind alle schon sechs oder acht Monate hier.“Ibrahim aus Gambia beschwert sich über das schlechte Essen: „Zum Frühstück Brot und Saft, mittags Makkaroni und abends Soße mit Brot.“

„Wir haben so viele Nationalit­äten, dass ich sie gar nicht alle aufzählen kann“, sagt der Kommandant. „Pakistanis, Ägypter, Eritreer.“Er könne nichts dafür, dass diese Leute so lange hier blieben, rechtferti­gt sich Salama. Die Bürokratie in Tripolis sei eben langsam. Aber die Migranten hätten es noch gut, meint er. „Normalerwe­ise sind hier 1200 Flüchtling­e untergebra­cht. Und Fußball spielen können sie auch.“

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AP Libyens Küste als Ort des Aufbruchs in eine vermeintli­ch bessere Zukunft.

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