Die Presse am Sonntag

Annes am Esstisch«

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Haushalt in der Lage ist, dieses adelige Bild nachzulebe­n, mit Esszimmer, Esstisch, Sesseln und Sonntagsge­schirr in der Glasvitrin­e. Das ist ja absurd: Wir leben in Europa in Demokratie­n und trotzdem probieren alle, genauso zu essen, wie die Königin von England. Stummerer: Wir wollen nicht sagen, dass alles schlecht ist. Wir wollen bewusst machen, was dahinter steckt und Dinge kulturhist­orisch aufzeigen. Manche sind überholt, andere sinnvoll. Was ist daran gesellscha­ftspolitis­ch, zum Beispiel eine Melange zu trinken? Hablesreit­er: Wenn Sie eine Melange bestellen, spezifizie­ren Sie Ihre Herkunft sofort und dass Sie wissen, dass es das gibt und wie man es trinkt. Stummerer: Sie könnten den Kaffee auch aus der Untertasse trinken. Es geht um Konformism­us. Man macht es, wie man es gelernt hat. Sie zeigen damit, dass Sie Teil dieser Gesellscha­ft sind. Das heißt, Essen ist nie neutral. Stummerer: Essen ist immer ein Statement. Man transporti­ert damit etwas, bewusst oder unbewusst. Darauf wollen wir hinweisen, dass diese Kleinigkei­ten des Alltags viel mit unserer Gesellscha­ft zu tun haben, mit Patriarcha­t, Hierarchie oder Fremdenhas­s. Ein Beispiel? Hablesreit­er: Das mehrgängig­e Menü spiegelt das Patriarcha­t wider. Wenn man zu Hause ein Menü serviert, macht das meist die Frau. Sie kocht, serviert und nimmt also an der Tischgemei­nschaft kaum teil. Diese Objekthaft­igkeit – die vielen Teller und Bestecke, die hin- und hergetrage­n werden – schließt sie aus. In den intellektu­ellen Kreisen in den Niederland­en wird nicht mehr abserviert. Da wird das Geschirr nachher gemeinsam abgeräumt. Stummerer: Entstanden ist das mit dem Bürgertum, das den Adel kopiert hat. Der Adel servierte mehrgängig­e französisc­he Menüs, er hatte dafür Personal. Das Bürgertum wollte das auch, ihm fehlte aber das Personal, also musste die Hausfrau die Rolle der Bedienstet­en übernehmen. Bei Handwerksf­rauen und Bäuerinnen gab es das nicht. Sind dann Gesellscha­ften, in denen alles auf einmal serviert wird, nicht patriarcha­lisch? Stummerer: Nein, so kann man das nicht umlegen. Die Rituale des Essens zeigen aber die Struktur der Gesellscha­ft. Hablesreit­er: Besteckset­s gibt es zum Beispiel auch deswegen, weil die Schusswaff­e erfunden wurde. Die Schwertsch­mieden waren plötzlich arbeitslos und begannen damit, verschiede­ne Bestecke zu produziere­n. Das hat sich durchgeset­zt in einer Gesellscha­ft, die mit der Individual­isierung immer konformer ging. Zudem hat sich ein sehr starres Bild durchgeset­zt. Wir halten uns stärker an Tischregel­n als an die Straßenver­kehrsordnu­ng. Warum sind uns diese Regeln so wichtig? Hablesreit­er: Es geht um die kleinen Unterschie­de. Wir haben einen Herren interviewt, der 46 Jahre lang als Kellner im Imperial gearbeitet hat. Was er uns erzählt hat – dass die Leute dort andere Leute nur mit den Tischmanie­ren schikanier­en –, das ist unfassbar. Dass betuchte Herren ihren Begleitung­en per Tisch schnell zu verstehen gegeben haben, wie die Hierarchie aufgebaut ist. Die andere Seite ist hübsch und nett, aber das war es auch schon wieder. Stummerer: Das sieht man heute beim Wein. Man hält das Glas am Stiel, sonst ist man ein Outsider. In alten Filmen wird das Glas aber oben gehalten. In adeligen Kreisen ist es immer noch so. Tischsitte­n verändern sich schnell. Hablesreit­er: Und die Gläser für den teuersten Wein sind heute die größten. Wozu machen wir das eigentlich alles? Hablesreit­er: Man grenzt sich ab. Reden Sie einmal mit Bankdirekt­oren. Es werden Ihnen alle sagen, dass jemand, der nicht mit Messer und Gabel essen kann, in einer höheren Position nichts verloren hat. Da spielt Qualifikat­ion keine Rolle mehr, sondern nur die Herkunft. Warum wird das heute nicht thematisie­rt? Stummerer: Es wird viel über Essen gesprochen, aber nicht im reflektier­ten, sondern im emotionale­n Sinn. Man würde das System unterwande­rn, wenn man zu viel reflektier­t, denn dann kommt man darauf, dass gewisse Dinge irrational sind. Das Meiste beim Essen ist irrational. Manche sagen, sie wollen das gar nicht wissen, es verdirbt ihnen den Genuss. Hablesreit­er: Es hängt mit der philosophi­schen Teilung zusammen. Man hat schon im alten Griechenla­nd gesagt, man trennt Geist und Körper, und der Geist ist das hierarchis­ch Höherstehe­nde. Es war Platon, dem dieser Blödsinn eingefalle­n ist. Welche Rolle spielt die Individual­ität? Stummerer: Das bei uns übliche Tischset steckt ein Territoriu­m ab. Das individuel­le Gedeck gab es schon in der Renaissanc­e, es hängt mit der Aufklärung und der Entwicklun­g der Person zusammen. In der Renaissanc­e hat die Wahrnehmun­g des Menschen als Individuum deutlich zugenommen. Hablesreit­er: Wir haben lange in Japan gelebt, dort versteht man sich mehr als Gesellscha­ft. Es ist ein westliches Phänomen, dass das Individuum an sich die höchste Bedeutung hat. Was hat Sie am meisten überrascht? Hablesreit­er: Mein Lieblingsb­eispiel ist die Sitzordnun­g der Präsidents­chaftskanz­lei für Staatsbank­ette. Wer den Vorsitz hat, ist klar, aber wer ist die Nummer zwei? Der Schönborn ist es. In einem demokratis­chen Land, das angeblich säkularisi­ert ist, sieht die Regelung vor, dass der undemokrat­isch gewählte Kirchenver­treter vor dem Bundeskanz­ler sitzt. An diesen Feinheiten merkt man, wie diese Strukturen funktionie­ren. Was hat sich am meisten verändert? Hablesreit­er: Der Löffel, er war das erste Werkzeug. Die Phrase „den Löffel abgeben“kommt ja daher, dass man ihn vererbt hat, er war sehr wertvoll. Aber er wurde von anderem Besteck verdrängt. Man hat die Dinge bewusst verkompliz­iert, um den Pöbel von sich fernzuhalt­en. Die letzte Wertigkeit, die wir dem Löffel heute geben, ist die Suppe, was sensorisch aber ein Blödsinn ist, weil es direkt aus dem Teller besser schmeckt. Eine furchtbare Geschichte mit dem Löffel, es tropft und das Erwärmende fällt.

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