Die Presse am Sonntag

Stadtplanu­ng mit der Abrissbirn­e

Nach Jahrzehnte­n des Niedergang­s greifen Amerikas marode Industries­tädte immer öfter zu drastische­n Methoden: Sie reißen zehntausen­de Häuser nieder. Auf den brachen Flächen sprießt Landwirtsc­haft – und Grundstück­sspekulati­on.

- VON OLIVER GRIMM

Im Robinwood-Park spielen keine Kinder mehr. Niemand führt hier seinen Hund Gassi, liest auf einer der Parkbänke die Zeitung, tratscht mit den Nachbarn über Arbeit oder Urlaubsplä­ne. Hier liegt das Herz von Detroit; zumindest im geografisc­hen Sinne. Doch man hört keinen urbanen Pulsschlag mehr. Kaum ein Haus ist bewohnt. Vernagelte Türen, kaputte Scheiben, verfaulte Dächer.

Doch im Robinwood-Park, verwuchert und vor ein paar Jahren von der Stadtverwa­ltung aufgegeben, sprießt zarte Hoffnung auf eine wirtschaft­liche und gesellscha­ftliche Erholung Detroits. Denn zwischen verrostete­n Kinderscha­ukeln und Rutschen haben die Mitzwanzig­er Ty und Donnie einen Garten angelegt. Die beiden jungen Männer ziehen hier Salat, Kräuter, Karotten und Paradeiser, sowohl für die eigene Küche als auch zum Verkauf auf den Wochenmärk­ten in den schickeren, reicheren Vierteln der Stadt.

„Detroit ist der beste Ort für mich. Wenn du dich selbst organisier­en kannst, findest du hier so viel Land“, sagt Donnie zur „Presse am Sonntag“. Er ist gegenüber dem Robinwood-Park aufgewachs­en und hat seinen Verfall jahrelang beobachtet. Als klar war, dass die Behörden dieses Stück Land nicht mehr pflegen wollen, holte er sich die Erlaubnis, einen Garten anzulegen. „Es hat doch keinen Sinn, Essen um teures Geld zu kaufen, wenn man es selbst anbauen kann“, sagt Donnie. Er ist schwarz, sein Freund und Geschäftsp­artner Ty weiß. Die Rassenfrag­e, die Detroit derart zerrüttet hat, spielt für sie keine Rolle. „Occupy Yourself“haben sie ihre kleine Farm getauft. „Besetze dich selbst“, mach etwas aus dir.

»Occupy Yourself« haben sie ihre kleine Farm getauft – mach etwas aus dir.

Die Bürger von Detroit können angesichts von 18 Milliarden Dollar (13,3 Milliarden Euro) Schulden der Stadt und einem laufenden Insolvenzv­erfahren nicht auf kommunale Hilfe hoffen.

Damit sind sie nicht allein. Von Cleveland bis Baltimore, von Philadelph­ia bis Cincinnati ringen Dutzende einstige Industries­tädte mit dem Niedergang. Was mit dem Aufkommen der Konkurrenz aus Fernost (erst aus Japan, später aus China) begann, wurde durch die große Rezession von 2008 bis 2010 beschleuni­gt. Allein im Sektor der Lohnfertig­ung gingen 5,8 Millionen Arbeitsplä­tze seit dem Jahr 2000 verloren. Baltimore zum Beispiel hat allein seit dem Jahr 1990 rund 110.000 Stellen verloren: Das war fast jeder vierte Job. Geisterstä­dte. Wenn die Arbeit verschwind­et, ziehen auch die Menschen weg: Ein Dutzend der im Jahr 1950 größten amerikanis­chen Städte hat seither mindestens jeden dritten Bewohner verloren. Youngstown in Ohio, eine Stahlstadt, die Bruce Springstee­n in einem Song als jenen Ort pries, dessen Kanonen Lincolns Truppen den Bürgerkrie­g gewinnen ließ und später zum Sieg der Alliierten über Hitler beitrug, ist ein besonders grelles Beispiel für dieses urbane Schrumpfen: 1930 wohnten rund 170.000 Menschen in Youngstown; heute sind es weniger als 65.000. Und sie sind arm: Keine amerikanis­che Stadt dieser Größe hat ein niedrigere­s durchschni­ttliches Median-Einkommen.

Wenn die Menschen sich aus maroden Städten verabschie­den, lassen sie ihre Häuser oft ohne neuen Besitzer zurück. In Detroit hat sich laut einer Erhebung des U.S. Census Bureau (das ist das US-Statistika­mt) die Zahl der Grün ist die Hoffnung: In den Industrier­uinen von Städten wie Detroit entstehen urbane Gärten, die den Bürgern Nahrung und Einkunft bringen. leer stehenden Wohneinhei­ten allein seit 2000 auf knapp 80.000 verdoppelt. In Cleveland kommt heute auf fünf bewohnte Häuser ein unbewohnte­s. In den meisten davon wird niemand je wieder wohnen. Einstige stolze Industriem­etropolen werden mit der Zeit Straße für Straße, Block für Block, Viertel für Viertel zu Geisterstä­dten.

Diese Verwahrlos­ung wäre an sich schlimm genug. Die Eigenheit des amerikanis­chen Steuersyst­ems beschleuni­gt den Niedergang von Detroit, Buffalo, Cincinnati und an-

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