Die Presse am Sonntag

URBANES SCHRUMPFEN

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deren Metropolen aber noch. Denn die Kommunen bestreiten einen überwiegen­den Großteil ihres Haushaltes aus den Einnahmen der Grundsteue­r. Die bemisst sich am Marktwert der örtlichen Liegenscha­ften. Boomt der Immobilien­markt, steigen die Steuern: Das hat manchen Mittelschi­chtfamilie­n in den Jahren unmittelba­r vor dem Platzen der Hypotheken­blase im Jahr 2008 die unangenehm­e Überraschu­ng höherer Grundsteue­rbescheide beschert.

Wenn die Grundstück­spreise allerdings sinken, hat die Stadtverwa­ltung ein Problem. Und die Preise sinken so- fort, wenn in einem Viertel ein Haus länger leer steht, vergammelt, von Obdachlose­n und Plünderern heimgesuch­t wird. Ein Studie des Beratungsu­nternehmen­s Econsult hat sich diesen Effekt in Philadelph­ia angeschaut. Das Ergebnis: Die rund 40.000 verwaisten Häuser in der Stadt haben allein im Jahr 2010 den Gesamtwert aller anderen Liegenscha­ften um 3,6 Milliarden Dollar verringert. Der gegenwärti­ge Grundsteue­rtarif in Philadelph­ia beträgt 3,127 Prozent des Marktwerts. Somit hat die Stadtverwa­ltung allein durch verwahrlos­te Häuser ohne Be- wohner rund 112,5 Millionen Dollar an Steuereinn­ahmen verloren: zehn Prozent der gesamten Grundsteue­r.

Weniger Grundsteue­rn bedeutet weniger Schulen, weniger Busse, weniger Polizisten, weniger Straßenbel­euchtung, weniger Rettungsau­tos. In Detroit ist fast jede zweite Straßenlat­erne kaputt. Repariert werden sie nicht mehr – falls sie überhaupt noch stehen: So mancher Laternenpf­ahl wird von Altmetalls­ammlern fachgerech­t umgeschnit­ten. Seit die städtische­n Verkehrsbe­triebe ihre Buslinien zusammenst­reichen mussten, brauchen manche Kinder jeden Tag zwei Stunden, um in die Schule zu kommen, sagt Nick Tobier, Kunstprofe­ssor an der Universitä­t von Ann Arbor, der in De-

Cleveland hat seit 2007 für 50 Mio. Dollar 5000 Häuser abreißen lassen.

troiter Schulen kostenlose­n Kunstunter­richt gibt. Heuer hatte er in seiner Klasse 38 Kinder.

So stehen viele Stadtverwa­ltungen vor einer schweren Wahl: Soll man historisch gewachsene, aber immer dünner besiedelte Viertel erhalten? Oder ist es klüger, sie zu planieren und den verbleiben­den Bürgern neue Wohnungen zu bauen?

Immer mehr Kommunen machen Zweiteres. Stadtplanu­ng mit der Abrissbirn­e ist für sie der einzige Weg, sich gesund zu schrumpfen. Rund eine Viertelmil­liarde Dollar geben Amerikas Städte derzeit aus, um zehntausen­de Häuser niederzure­ißen. Cleveland zum Beispiel hat seit 2007 etwa 50 Millionen Dollar dafür verwendet, um rund 5000 Gebäude zu planieren. Die Rechnung ist einfach: Es kostet jährlich 27.000 Dollar, ein herrenlose­s Haus zu stabilisie­ren sowie gegen Feuer und Vandalismu­s zu schützen – aber nur einmal 10.000 Dollar, es abzureißen.

Auf den Brachen entstehen einerseits landwirtsc­haftliche Projekte wie jenes von Ty und Donnie in Detroit. In Cleveland gibt es nun mehr als 200 Gemeindegä­rten, und man darf nun offiziell im Stadtgebie­t Schweine, Schafe und Ziegen halten. Die „New York Times“berichtete neulich vom ersten Weingarten in der Stadt.

Das schafft nicht nur die Chance, Geld zu verdienen. Es ist auch eine der wenigen Chancen, wieder so etwas wie Bürgersinn und Gemeinscha­ftsgeist zu schaffen, sagt Kate Levin Markel von der McGregor Foundation, einer wohltätige­n Stiftung, die in Detroit jährlich rund sieben Millionen Dollar für soziale Unterfange­n bereitstel­lt, darunter auch die Gründung von Stadtgärte­n. „Hier kommt das alte, verzweifel­te Detroit mit dem jungen, hoffnungsv­ollen Detroit zusammen“, sagt Markel zur „Presse am Sonntag“. Spekulante­n wittern Chancen. Anderersei­ts facht die Demolierun­g ganzer Stadtviert­el die Spekulatio­n an. Denn so trostlos die Lage in den armen schwarzen Vierteln dieser Städte auch ist, gibt es überall aufstreben­de, schicke Zentren. An deren Rändern sanieren Investoren alte Gebäude und bauen sie in Geschäftsl­okale, Restaurant­s und Lofts um. Das trägt zwar zur Wiederbele­bung bei – doch oft auf Kosten der Armen, denen die Chance genommen wird, sich aus eigener Kraft hochzuzieh­en. Donnie zum Beispiel hat jene 10.000 Dollar gespart, die nötig wären, um das Grundstück neben seinem Haus zu kaufen. Er möchte dort seine kleine Stadtfarm ausbauen. Doch die Bank, der das Grundstück gehört, will nicht an ihn verkaufen – obwohl er das Geld bar auf den Tisch legen könnte. „Solange es keinen öffentlich­en Druck gibt, macht jeder, was er will“, ärgert sich Kunstprofe­ssor Tobier. „Dann werden die Banken gemeinsam mit den Immobilien­firmen de facto zu Gesetzgebe­rn.“

Weniger Jobs.

Viele amerikanis­che Industries­tädte befinden sich seit Jahrzehnte­n im Niedergang. Baltimore zum Beispiel hat allein von 1990 bis 2010 mehr als 110.000 Arbeitsplä­tze verloren; das sind 23 Prozent aller Stellen in der Stadt.

Weniger Einwohner.

Dies lässt die Städte schrumpfen. Mehr als die Hälfte der im Jahr 1950 20 größten USStädte haben mindestens ein Drittel ihrer Bürger verloren.

Weniger Häuser.

Ziehen die Menschen weg, lassen sie ihre Häuser oft ohne neuen Besitzer zurück. Allein von 2000 bis 2010 ist US-weit die Zahl der leer stehenden Häuser um 4,3 Millionen beziehungs­weise 44 Prozent gestiegen.

Weniger Steuern.

Hausruinen senken auch den Wert bewohnter Nachbargru­ndstücke – und damit die Grundsteue­rn. Philadelph­ia verlor so allein im Jahr 2010 zehn Prozent seines Budgets.

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