GERHARD FRIEDRICH
ker unterscheiden zwischen der Prämutations-, Mutations- und Postmutationsphase. Die gesamte Zeitspanne aller drei Phasen reicht bei Mädchen wie Burschen etwa vom 9. bis zum 18. Lebensjahr, in dem die Stimmentwicklung (vorerst) abgeschlossen ist. Bei Burschen ist der Stimmwechsel meist unüberhörbar, da ihre Sprechstimmlage um rund eine Oktave sinkt – die der Mädchen wird um eine Terz tiefer. Durch den Einfluss des Sexualhormons Testosteron wächst der Kehlkopf bei Knaben in der Pubertät stark, er ändert auch seine Form. Dadurch wird der sogenannte Adamsapfel sichtbar.
Eine Sängerin als ›Primo Uomo‹ war in der Barockoper nichts Ungewöhnliches.
„Nach den primären Geschlechtsorganen ist der Kehlkopf das Organ mit den stärksten Veränderungen“, erläutert Gerhard Friedrich, Leiter der klinischen Abteilung für Phoniatrie an der Med-Uni Graz. Die Stimmlippen werden bei Burschen um rund einen Zentimeter länger, bei Mädchen um drei bis vier Millimeter. Nicht nur das: Der österreichische Stimmforscher Christian T. Herbst, der derzeit am Department für Biophysik der Uni Olmütz tätig ist, erklärt, dass sich erst in der Mutationsphase die mittleren bzw. tiefen Schichten des Stimmbandes ausprägen. „Die biomechanische Ausgangssituation ist für Burschen völlig neu. Vor allem Sänger können damit stark zu kämpfen haben“, so Herbst. Verläuft die Mutation normal, sollte das Absinken der Stimme bis zum 16. Lebensjahr abgeschlossen sein und nicht länger als zwei Jahre gedauert haben. Kastraten und Falsettisten. Nur selten bleibt die Mutation aus. Dies hat im Normalfall organische Ursachen, wurde aber jahrhundertelang durch Kastration von Buben vor ihrer Pubertät quasi künstlich herbeigeführt. Die Kastraten behielten ihre Knabensingstimme in Sopran oder Alt, wurden aber so groß wie Erwachsene.
Wer denkt, dass Kastraten bloß dazu da waren, weibliche Singstimmen zu ersetzen, irrt. Wie die Musikwissenschaftlerin Christa Brüstle (Uni für Mu-
Leiter der klinischen Abteilung für Phoniatrie an der Med-Uni Graz sik und darstellende Kunst Graz) betont, „waren Kastraten in der Oper nur eine Variante von hohen Männerstimmen. Sie haben vor allem weniger tragfähige Männerstimmen, sprich Falsettisten, ersetzt.“ Fließende Übergänge. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts waren Kastraten in der Oper sehr beliebt. Für die Besetzungspraxis der Opernhäuser war die Stimmlage entscheidend. Sowohl weibliche als auch männliche Hauptrollen waren als Sopranpartien ausgerichtet: Eine Sängerin als „Primo Uomo“war nichts Ungewöhnliches. Mit der späteren Verdrängung von Kastraten und einer Ausdifferenzierung zwischen einer „typisch“männlichen oder weiblichen Stimme hat sich auch für Sängerinnen viel geändert. „Niemand kam mehr auf die Idee, einen Heldentenor mit einer Frau zu besetzen“, ergänzt Brüstle.
Studien zum Stimmumfang von Männern und Frauen zeigen jedoch, dass es große stimmliche Überschneidungen und fließende Übergänge gibt. Inzwischen sind Männer mit hoher Singstimme wie etwa der Countertenor Arno Raunig in der klassischen Musik – oder aus dem Genre der Popmusik Sänger wie Michael Jackson oder Prince – wieder anerkannt. Gleiches gilt für Sängerinnen mit tiefer Frauenstimme wie Zarah Leander, Grace Jones oder Nathalie Stutzmann aus dem Bereich der Klassik.
Die Frauenstimme, ob hoch oder tief, wird ebenfalls von Sexualhormonen beeinflusst. Während des weiblichen Zyklus oder einer Schwangerschaft können professionelle Sängerinnen damit zu kämpfen haben, ihre Stimme zu fokussieren und zu führen. Opernhäuser richteten lange Zeit den Spielplan nach dem Zykluskalender der Sängerinnen aus: Die Stimme konnte weniger voll und sicher klingen, das Risiko von Heiserkeit oder an-
Opernhäuser richteten den Spielplan nach dem Zykluskalender der Sängerinnen aus.
deren Stimmstörungen wurde als höher eingeschätzt. Die hormonbedingten zyklischen Schwankungen und ihre Wirkung auf die Stimme werden als Pre-Menstrual Vocal Syndrome bezeichnet. Heute kann dies neben Sängerinnen auch Berufssprecherinnen oder Schauspielerinnen betreffen. Vieles ist aber erst teilweise erforscht.
„In der Schwangerschaft können sich im Einzelfall neben dem Hormonstatus auch eine Schwangerschaftsrhinitis, die veränderte Körperhaltung sowie eine beeinträchtigte Atem- und Stützfunktion negativ auf die Singstimme auswirken“, erklärt die HNO-Fachärztin Julia Rechenmacher-Strauß (Paracelsus Medizin-Privat-Uni).
Singen und Stimmhygiene sind während des ganzen Lebens vorteilhaft. Speziell ältere Menschen würden laut Denk-Linnert sehr davon profitieren, ihre Stimme in Schwung zu halten. Denn der Alterungsprozess macht nicht vor der Stimme halt. „Es betrifft die Atmung, den Kehlkopf, Veränderungen im Ansatzrohr und vieles mehr“, schildert Friedrich. Die Stimme werde leiser, behauchter, instabiler. In einer Studie wurde gezeigt, dass sich die Stimmtonhöhe von Männern und Frauen im Alter wieder annähert. „Letztlich“, so Friedrich, „kann man bei sehr alten Menschen rein von der Tonaufnahme her oft gar nicht mehr unterscheiden, ob es sich um einen Mann, oder eine Frau handelt.“