Die Presse am Sonntag

Die unerwünsch­te Rückkehr der

Vor 150 Jahren wur©en ©ie Tscherkess­en von ©er ZŻrenŻrmee Żus ihrer HeimŻt im Nor©kŻukŻsus vertrieãen. Heute wollen NŻchkommen ©er unfreiwill­igen EmigrŻnten zurückkehr­en. Doch ©Żs offizielle RusslŻn© ignoriert ©iesen Wunsch.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Kurz vor den Touristenk­öpfen bleibt die Messerspit­ze in den Holzplanke­n stecken. Dann eine zweite. Und eine dritte. Der junge Mann mit den Lederstief­eln und dem schwarzen, eng anliegende­n Mantel, der an der Brust mit Patronenhü­lsen geschmückt ist, feuert seine spitzen Waffen ab. So lange, bis er keine mehr in Händen hält und sie alle in einem kunstvolle­n Messerkrei­s im Boden stecken. Die Gäste aus dem russischen Norden, aus Perm, Samara und St. Petersburg, sind nicht mehr zu halten. Sie johlen und applaudier­en.

Es ist die wohldosier­te Gefahr, die das Publikum begeistert und manchen kurz den Atem stocken lässt, bevor er wieder vom süßen hausgemach­ten Wein nippt, der mit ebensolche­m Wahnsinnst­empo in den Kopf steigt, wie die Männer sich auf der Bühne um die eigene Achse drehen.

An diesem Abend im Dorf Bolschoj Kitschmai, im hügeligen Hinterland von Sotschi, sind die Beziehunge­n zwischen Russen und Tscherkess­en für einen Abend lang so, wie sie vor mehr als 150 Jahren einmal waren: Die Kaukasier sind die stolzen Gastgeber, deren Gesetz hier gilt. Die Russen sind

An ©iesem Aãen© sin© ©ie KŻukŻsier ©ie stolzen GŻstgeãer, ©eren Gesetz gilt.

die Gäste, die sich am Schluss erheben, beschwipst und angetan gleicherma­ßen, und mit dem Autobus abfahren. Eroberung und Vertreibun­g. Aslan Gwaschew steht am Rand der Bühne und sieht den Kollegen zu. Der Mann mit dem dichten Schnurrbar­t ist der künstleris­che Leiter der Volkstanzg­ruppe. Für ihn ist die abendliche Darbietung nicht das Kostümspek­takel, als das es in den Reisebüros der Schwarzmee­rmetropole Sotschi verkauft wird. Für ihn ist die Darbietung ein Ritual, das auf der kleinen Restaurant­bühne für zwei Stunden die Ordnung auf den Kopf stellt. Zwischen den energische­n Liedern erklärt Gwaschew den Touristen die Kultur und Geschichte der Tscherkess­en. Kurz, bündig, witzig. „Früher haben wir mit Waffen gekämpft“, sagt er. „Heute wollen wir kein Blut mehr vergießen.“

Das Verhältnis von Russen und Tscherkess­en ist konfliktge­laden. Es ist eine Geschichte von Eroberung, Vertreibun­g und von Unrecht, das bis heute nicht gutgemacht wurde.

Gwaschews Dorf Bolschoj Kitschmai ist ein tscherkess­ischer Aul, ein traditione­lles Tscherkess­en-Dorf. Die Einfamilie­nhäuser liegen verstreut im breiten Tal des Flusses Schache, dessen gurgelndes Wasser sich ein paar Kilometer weiter stromabwär­ts ins Schwarze Meer ergießt.

Hier, im Norden des Großen Kaukasusge­birges, lebten bis ins 19. Jahrhunder­t die Tscherkess­en. Heute sind sie eine Minderheit. Die Tscherkess­en, die sich in zwölf Stämme teilten, siedelten nicht nur an der Schwarzmee­rküste, sondern bewohnten auch das Hügel- und Bergland weiter östlich, wo sie sich vor allem mit Viehzucht befassten. Sie lebten in basisdemok­ratisch organisier­ten Verbänden, die von Fürstenfam­ilien regiert wurden. Über die Jahrhunder­te bildete sich ein typischer Identitäts­zug eines Kaukasusvo­lkes heraus: Zweckbündn­isse konnten niemals das hohe Gut der Unabhängig­keit aufwiegen. Man betrieb Handel, etwa mit den Osmanen im Süden, man ging mitunter strategisc­he Bündnisse ein, etwa mit dem russischen Staat im Norden. 1561 heiratete ein russischer Zar gar eine tscherkess­ische Prinzessin: Es ist dieses Datum, das in Russland bis heute als Beginn der Einverleib­ung der osttscherk­essischen Gebiete namens Kabarda gilt. Aufstand gegen Kolonisato­ren. Mit der forcierten Ausdehnung des russischen Reiches wurde die Unabhängig­keit der Tscherkess­en bedroht. Russland ging es um ökonomisch­e Expansion, um Grenzsiche­rung, um Geopolitik. Südlich des Kaukasus befanden sich das Osmanische Reich und die Perser, Konkurrent­en des Zarenreich­s um die Vormachtst­ellung in der Region. Die „Befriedung“des Kaukasus durch Kosaken und Siedler sollte den Weg ebnen in Richtung Süden.

Die Eroberung nahm Jahrzehnte in Anspruch. 1813 fiel die Stadt Derbent am Kaspischen Meer an die Russen. 1829 erhielt das Zarenreich mit dem Frieden von Adrianopel Zugang zur Schwarzmee­rküste, wo es fortan Militärlag­er errichtete. Im Hinterland, an den Hängen des Kaukasusge­birges, stießen seine Truppen auf erbitterte­n Widerstand. Nicht die mehr als 5000 Meter hohen Gipfel boten die größte Herausford­erung, sondern die kleinen Gebirgsvöl­ker stellten sich dem russischen Vormarsch entgegen. Awaren und Tschetsche­nen kämpften im Osten gegen die russischen Soldaten, bis sich ihr Anführer Imam Schamil 1859 ergab. Im Westen waren es die Tscher-

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