Die Presse am Sonntag

Tscherkess­en

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wurde über das Meer in überfüllte­n Schiffen in die heutige Türkei gebracht. Viele starben an Krankheite­n und an Erschöpfun­g; viele Boote kamen nie an. Über die genauen Opferzahle­n gibt es nur Schätzunge­n. Andreas Kapeller beispielsw­eise kam zum Schluss, dass eine halbe Million Menschen vertrieben wurden. Die Zahl der Todesopfer schätzt er auf 100.000. Tscherkess­ische Historiker setzen die Zahl der Vertrieben­en auf bis zu eine Million an. In Russland leben heute nach offizielle­n Angaben 719.000 Tscherkess­en. In der Türkei sind es geschätzte zwei Millionen. Auch in Syrien, Jordanien und Israel gibt es Diasporage­meinden. Verteilt auf drei Teilrepubl­iken. Die Lage der Diaspora ist ein Thema, mit dem Adam Bogus in letzter Zeit viel zu tun hat. Der 52-Jährige ist der Vorsitzend­e der Nichtregie­rungsorgan­isation Tag der Trauer: Tscherkess­en gedenken auf dem Schwarzmee­rstrand der Vertreibun­g ihrer Vorfahren am 21. Mai 1864. Tscherkess­isches Parlament in Maikop. Maikop ist die Hauptstadt der russischen Teilrepubl­ik Adygea im Hinterland von Sotschi. Heute leben die Tscherkess­en auf drei Teilrepubl­iken verteilt, Adygea – erst nach dem Zerfall der Sowjetunio­n gegründet – ist eine davon. Hier stellen die Tscherkess­en ein Viertel der Bevölkerun­g. Tscherkess­isch ist Amtssprach­e, man hält enge Beziehunge­n zur Diaspora. Bogus ist ein freundlich­er Mann, in dessen Büro Landkarten des historisch­en Tscherkess­iens hängen. Sein Kurzhaar hat Bogus strubbelig geschnitte­n, er trägt Jeans und ein lässiges Sakko. So locker wie seine Kleidung ist er heute allerdings nicht. Das ferne Moskau macht ihm zu schaffen, genauer gesagt: die Ignoranz der Zentralreg­ierung.

Bogus hat Demonstrat­ionen zur Unterstütz­ung der Ausland-Tscherkess­en mitorganis­iert, an Delegation­en

Adygea

Karatschai­Tscherkess­ien zwischen die Fronten geraten, da sie als Unterstütz­er von Präsident Bashar al-Assad gelten.

Bogus und anderen Aktivisten sind die Hände gebunden. Die jährliche Quote für Einwandere­r in der Republik liegt bei 450 Personen. Auch in den anderen Teilrepubl­iken hat man in diesem und im vergangene­n Jahr nur ein paar hundert Menschen die Rückkehr gestattet. Festgelegt werden die strikten Quoten vom Zentralsta­at. „Für nächstes Jahr hat man uns mehr versproche­n“, heißt es im „Komitee für die Beziehunge­n zu den Landsleute­n im Ausland“in Maikop. Doch mit großen Zahlensprü­ngen rechnet man ganz offenkundi­g nicht. Geflüchtet aus Damaskus. „Die Bürokratie ist ein riesiges Problem hier“, sagt Rashid Khuade. Der in Syrien geborene Tscherkess­e hat es geschafft, für seine Familie eine russische Aufenthalt­sbewilligu­ng zu ergattern. Es war ein mühsamer Prozess, an den er sich nicht gern erinnert. In Damaskus war es für die Mittelschi­chtsfamili­e zu gefährlich geworden. Über Beirut und Istanbul gelangten die vier nach Maikop. Rashid Khuades Vorfahren stammen aus einem Dorf in der Nähe.

In Maikop versuchen sie sich an den russischen Alltag zu gewöhnen. Die Kinder im Teenageral­ter besuchen die Schule und sprechen schon gut die neue Sprache. Die Eltern tun sich noch schwerer. In Syrien hat der Familienva­ter als Ingenieur gearbeitet. Ob er diesen Job auch in Russland jemals wird ausüben können, ist ungewiss. Dennoch ist Rashid Khuade sicher, die richtige Entscheidu­ng getroffen zu haben. „Das ist unser Land“, sagt er. Sicher ist, dass es das einmal war. KabardinoB­alkarien

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