Ein fulminanter, amerikanischer »Woyzeck«
Büchner im Volkstheater: Michael Schottenberg inszenierte die Geschichte vom Soldaten in der Fassung von Robert Wilson und Tom Waits, dieser ist der bessere Brecht. Toll: das Ensemble.
Vom Übermut der Ämter, verschmähter Liebe Pein, spricht Hamlet. Knallhart bringt Georg Büchner 230 Jahre später die Sache auf den Punkt: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“Der Arztsohn aus Hessen (1813–1837) erlebte ein von Kriegen und geistigen Umwälzungen erschüttertes Europa: Auf die Französische Revolution folgten Terror und ein neuer, absoluter Herrscher, Napoleon, der seine Soldaten in den Tod nach Russland hetzte. In Deutschland dominierte geistige und politische Repression. Sturm und Drang wandten sich gegen die Aufklärung. Die Naturwissenschaften blühten auf, doch der Mensch nutzte sie nur wieder, um neue Gewalt anzuwenden. Der Soldat Franz Woyzeck ist nicht nur ein armer Hund, sondern auch das Opfer eines „Tierversuchs“. Für ein paar Groschen verdingt er sich beim Doktor als Versuchskaninchen für dessen Experimente. Schmerzensmann Buttinger. Von der Mangelernährung gehen Woyzeck die Haare aus – und Wahnvorstellungen hat er auch. Haymon Maria Buttinger spielt seit Freitag im Volkstheater diesen Schmerzensmann – und ist als Schauspieler gar nicht so stark wie als Typ. Die Protagonisten dieses Stücks sind oft drahtige, junge Burschen. An diesem entgeisterten Woyzeck hat der Zahn der Zeit genagt, ihm sieht man das Elend des langen Dienstes im Regiment und die Verzweiflung über das Scheitern seiner Liebe zu Marie an.
Auch das übrige Ensemble ist großartig: Die Marie ist meist eine dralle, vitale Dirne. Hanna Binder wirkt wie ein verstörtes, großes Mädchen. Vermutlich wurde sie schon öfter vergewaltigt, auch mit dem Tambourmajor wird es ihr nicht besser ergehen: Der riesenhafte, korpulente Christoph F. Krutzler stürmt ihr mit erstaunlicher Behändigkeit nach. Sogar Woyzeck, der brav seinen mageren Lohn bei Marie abliefert, mit der er ein Kind hat, bedroht sie, schon bevor er sie ersticht.
Das Kind ist bloß eine schäbige Stoffpuppe, die Karl (im Original der Narr) mit gruseligen Märchen in den Schlaf singt: Matthias Mamedof sieht aus wie ein Außerirdischer mit wirrem, weißem Haar und Monsteraugen. Tany Gabriel als Andres mahnt Woyzeck, nicht überzuschnappen. Vor Beginn der Aufführung spricht der Ausrufer (Thomas Bauer) Passagen aus Büchners revolutionärer Schrift „Der Hessische Landbote“, ein Appell an das Publikum, der allerdings eher untergeht: „Die Herren sitzen in Fräcken beisammen und das Volk steht gebückt vor ihnen“, heißt es darin u. a. Verwüstete Natur. Voll Einsamkeit, ohne Hoffnung ist die Welt, die Erde ein umgestürzter Topf mit Pisse, der Mond ein Stück faules Holz und die Sonne eine verwelkte Blume. Das Volkstheater hat sich für diese Aufführung wohl kostspielige Unterstützung geholt: Das Konzept stammt vom USBildermacher Robert Wilson, die Optik war ursprünglich bunt. Hans Kudlich färbte die VT-Bühne apokalyptisch grauweiß und nahm viel Erde: „Staub bist du.“Die Bildsprache erinnert aber auch teilweise an diese alten, braun unterlegten Werbespots für Whiskey oder Marlborough aus der Zeit, als der American Way of Life noch ungesund sein durfte. Erika Navas entwarf die verschlissenen Kostüme. Der größte Gewinn ist die Musik von Tom Waits, der das eher als Unterhaltungsgenre etablierte Musical ins Unheimliche, Krasse, Groteske umkippte – gemeinsam mit seiner Frau Kathleen Brennan. Todtraurige Popballade. Trotz weiblicher Inspiration sind die Songs aber typisch Waits: „If there’s one thing you can say about mankind, there’s nothing kind about man“, „Misery is the River of the World“, „Everything Goes to Hell“usw. Für die heutige Zeit scheint Tom Waits der bessere Brecht zu sein. Das Ensemble probiert mit unterschiedlichem Erfolg, meist jedoch mit erstaunlicher Treffsicherheit, Waits’ heiser flüsternden Gesangsstil zu imitieren. Näher beim Original ist die Band, sie sorgt aber auch dafür, dass die todtraurige Popballade nicht in Fadesse versinkt.
Etwas eigenwillig ist die Textfassung von Ann-Christin Rommen und Wolfgang Wiens, einiges ist aus dem Fragment herausgestrichen, darunter die Schlussszene des Polizisten: „Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord . . .“, freut sich dieser über das einfach zu klärende Verbrechen. „Woyzeck“wird oft gespielt, er sieht meist ähnlich aus. Diese Version ist anders, spannend, sehr berührend.