Die Presse am Sonntag

Herge´ und das Geheimnis der klaren Linie

»Tim und Struppi« in Neuauflage: wie der Belgier Herg´e den wichtigste­n Comic Europas schuf, weil er mit seinem einflussre­ichen Zeichensti­l eine Weltsicht ausdrückte. Der einzigarti­ge Erfolg verdankte sich Jugendträu­men – das führte später zur privaten Da

- VON CHRISTOPH HUBER

Es ist immer wieder schockiere­nd, in das erste Abenteuer von Tim und Struppi zu sehen: „Tim im Lande der Sowjets“, 1929/1930 erschienen, ist das einzige Album der weltberühm­ten Comicserie, das sein Schöpfer Herge´ später nicht perfektion­ierte. Alle anderen der erst als schwarz-weiße Fortsetzun­gsstrips in Zeitungen publiziert­en frühen Bände wurden vom perfektion­istischen Erfinder auf sein bevorzugte­s Idealforma­t von 62 Seiten eingedampf­t und elegant sowie in Farbe neu gezeichnet – manchmal sogar mehrfach! Denn als verantwort­ungsvoller Verwalter seiner Jahrhunder­tkreation strebte Herge´ nach maximaler Zugänglich­keit und Einfachhei­t, selbst als ihm der Erfolg seiner Erfindung längst zur Last geworden war. Die erste Reise des rasenden

Herg´e öffnete ein Fenster zur Welt, das sowohl Kinder als auch Erwachsene verzaubert­e.

Reporters Tim ins Reich der repressive­n Kommuniste­n ist aber noch ein Werk unbekümmer­ten Aufbruchs: rasant, aber krude und nicht nur farb-, sondern mit 140 Seiten auch schier endlos. An Abwechslun­g mangelt es jedoch nicht: Seite um Seite rettet sich Tim im letzten Moment aus Notsituati­onen, viele dynamische Kompositio­nen belegen schon Herges´ außerorden­tliches Talent, und eine rasante Autoflucht nach wenigen Seiten rückt den irritieren­dsten Faktor zurecht: Erst da biegt ein Windstoß Tims Haartolle nach hinten für den Markenzeic­henlook des ewig jungen Helden. Über 50 Jahre und 23 Bände – ein 24. Album, „Tim und die Alpha-Kunst“, blieb nach Herges´ Tod 1983 unvollende­t – würde Tim jung bleiben: Die beispiello­se Popularitä­t seiner Abenteuer verdankt sich auch der Erforschun­g der Welt mit jugendlich verklärtem Blick (darum gibt es in ihr außer der famos nervensäge­nden Opernsänge­rin Castafiore auch keine Frauen).

Den Entdecker-Elan paarte Herge´ aber mit einem authentisc­hen Reichtum und einer bezwingend­en Klarheit, die auch Erwachsene verzaubert: Diese magische Mischung sorgt für zeitlosen Reiz. Herges´ sprichwört­liche und enorm einflussre­iche „ligne claire“– einfache Figuren vor detaillier­tem realistisc­hen Hintergrun­d – lieferte mit ihren präzisen Konturen ein Fenster zur Welt: Die klare Linie umriss ihre atemberaub­ende Vielfalt und ordnete sie zugleich auf stets verständli­che Weise. Ein kindlicher Blick, der aber alle Altersschi­chten anspricht. Pfadfinder­träume. Die aktuelle Neuauflage der Abenteuer von Tim und Struppi lässt Herges´ Entwicklun­g zum Meister der Comic-Kunst erschöpfen­d nachvollzi­ehen, obwohl die erschienen­en zwei Auftaktbän­de nur die ersten fünf Alben umfassen – bis zu „Der blaue Lotos“, mit dem der Autor und Zeichner 1934 zu jener akribische­n Hingabe fand, die Europas wichtigste­n Comic prägte.

Damit begann Herge´ auch erwachsen zu werden – und entfremdet­e sich von der Erfüllung seiner Jugendträu­me: Sein öffentlich­er Erfolg ging Hand in Hand mit privaten Dauerkrise­n. Das ahnte der 1907 geborene Belgier Georges Prosper Remi wohl kaum, als er zwei Wege fand, um der provinziel­len Enge seiner kleinbürge­rlichen Heimat zu entkommen: Reisen mit den Pfadfinder­n, auch die nur spielerisc­h erträumten – als Cowboys und Indianer zum American Dream. Und Comics. Bald kombiniert­e er beides, unter dem Pseudonym Herge´ (abgeleitet von der französisc­hen Aussprache der vertauscht­en Initialen von Georges Remi: R. G.). Ab 1923 zeichnete er die Abenteuer von Totor, einem Pfadfinder, der sichtlich als Vorstudie für Tim diente. Als Herge´ dann von der katholisch­en Zeitung „Le XXe Siecle“` engagiert wurde, durfte er bald eine Kinderbeil­age gestalten: „Tim im Lande der Sowjets“holte Comics mit Sprechblas­en aus den USA, als in Europa noch Illustrati­onen mit Begleittex­t regierten. Die Innovation sorgte für eine Neudefinit­ion. Keine Zeit für Kaiserin Zita. In einer genialen Marketinga­ktion wurde 1930 auf dem Bahnhof von Brüssel die Heimkehr des Reporters aus der Sowjetunio­n inszeniert: Vor jubelnden Massen entstieg ein Schauspiel­er als Tintin – so Tims Originalna­me – dem Zug, Herge´ eilte mit einem Eimer Pomade hinterher, um die Tolle in Form zu halten – und ließ daher die ehemalige österreich­ische Kaiserin Zita stehen, ein Fan der ersten Stunde. Binnen Jahren waren es Hunderttau­sende im frankobelg­ischen Raum, nach dem Weltkrieg wurden es Millionen um den Globus.

Doch schämte sich Herge´ später seines ersten Erfolgs: Sein Herausgebe­r, Pater Wallez, der berüchtigt­erweise ein Mussolini-Foto auf dem Schreibtis­ch hatte, gab ihm ein antikommun­istisches Propaganda­buch als einzige und einseitige Quelle. Herge´ würde bald den Wert umfassende­r Recherche erkennen: Zeitlebens hortete er Bilder, Artikel und Bücher, die zur Grundlage detailgena­u ausgeführt­er Zeichnunge­n wurden. Als er 1950 sein eigenes Studio mit entlastend­er Arbeitstei­lung gründete, posierten die Mitarbeite­r tagelang füreinande­r, um die optimale Haltung der Comicfigur­en zu erarbeiten. Herge´ distanzier­te sich vom

 ?? Carlsen ?? Perspektiv­ische Virtuositä­t: eine schwindele­rregende Hochhauskl­etterei in „Tim in Amerika“.
Carlsen Perspektiv­ische Virtuositä­t: eine schwindele­rregende Hochhauskl­etterei in „Tim in Amerika“.
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