Herge´ und das Geheimnis der klaren Linie
»Tim und Struppi« in Neuauflage: wie der Belgier Herg´e den wichtigsten Comic Europas schuf, weil er mit seinem einflussreichen Zeichenstil eine Weltsicht ausdrückte. Der einzigartige Erfolg verdankte sich Jugendträumen – das führte später zur privaten Da
Es ist immer wieder schockierend, in das erste Abenteuer von Tim und Struppi zu sehen: „Tim im Lande der Sowjets“, 1929/1930 erschienen, ist das einzige Album der weltberühmten Comicserie, das sein Schöpfer Herge´ später nicht perfektionierte. Alle anderen der erst als schwarz-weiße Fortsetzungsstrips in Zeitungen publizierten frühen Bände wurden vom perfektionistischen Erfinder auf sein bevorzugtes Idealformat von 62 Seiten eingedampft und elegant sowie in Farbe neu gezeichnet – manchmal sogar mehrfach! Denn als verantwortungsvoller Verwalter seiner Jahrhundertkreation strebte Herge´ nach maximaler Zugänglichkeit und Einfachheit, selbst als ihm der Erfolg seiner Erfindung längst zur Last geworden war. Die erste Reise des rasenden
Herg´e öffnete ein Fenster zur Welt, das sowohl Kinder als auch Erwachsene verzauberte.
Reporters Tim ins Reich der repressiven Kommunisten ist aber noch ein Werk unbekümmerten Aufbruchs: rasant, aber krude und nicht nur farb-, sondern mit 140 Seiten auch schier endlos. An Abwechslung mangelt es jedoch nicht: Seite um Seite rettet sich Tim im letzten Moment aus Notsituationen, viele dynamische Kompositionen belegen schon Herges´ außerordentliches Talent, und eine rasante Autoflucht nach wenigen Seiten rückt den irritierendsten Faktor zurecht: Erst da biegt ein Windstoß Tims Haartolle nach hinten für den Markenzeichenlook des ewig jungen Helden. Über 50 Jahre und 23 Bände – ein 24. Album, „Tim und die Alpha-Kunst“, blieb nach Herges´ Tod 1983 unvollendet – würde Tim jung bleiben: Die beispiellose Popularität seiner Abenteuer verdankt sich auch der Erforschung der Welt mit jugendlich verklärtem Blick (darum gibt es in ihr außer der famos nervensägenden Opernsängerin Castafiore auch keine Frauen).
Den Entdecker-Elan paarte Herge´ aber mit einem authentischen Reichtum und einer bezwingenden Klarheit, die auch Erwachsene verzaubert: Diese magische Mischung sorgt für zeitlosen Reiz. Herges´ sprichwörtliche und enorm einflussreiche „ligne claire“– einfache Figuren vor detailliertem realistischen Hintergrund – lieferte mit ihren präzisen Konturen ein Fenster zur Welt: Die klare Linie umriss ihre atemberaubende Vielfalt und ordnete sie zugleich auf stets verständliche Weise. Ein kindlicher Blick, der aber alle Altersschichten anspricht. Pfadfinderträume. Die aktuelle Neuauflage der Abenteuer von Tim und Struppi lässt Herges´ Entwicklung zum Meister der Comic-Kunst erschöpfend nachvollziehen, obwohl die erschienenen zwei Auftaktbände nur die ersten fünf Alben umfassen – bis zu „Der blaue Lotos“, mit dem der Autor und Zeichner 1934 zu jener akribischen Hingabe fand, die Europas wichtigsten Comic prägte.
Damit begann Herge´ auch erwachsen zu werden – und entfremdete sich von der Erfüllung seiner Jugendträume: Sein öffentlicher Erfolg ging Hand in Hand mit privaten Dauerkrisen. Das ahnte der 1907 geborene Belgier Georges Prosper Remi wohl kaum, als er zwei Wege fand, um der provinziellen Enge seiner kleinbürgerlichen Heimat zu entkommen: Reisen mit den Pfadfindern, auch die nur spielerisch erträumten – als Cowboys und Indianer zum American Dream. Und Comics. Bald kombinierte er beides, unter dem Pseudonym Herge´ (abgeleitet von der französischen Aussprache der vertauschten Initialen von Georges Remi: R. G.). Ab 1923 zeichnete er die Abenteuer von Totor, einem Pfadfinder, der sichtlich als Vorstudie für Tim diente. Als Herge´ dann von der katholischen Zeitung „Le XXe Siecle“` engagiert wurde, durfte er bald eine Kinderbeilage gestalten: „Tim im Lande der Sowjets“holte Comics mit Sprechblasen aus den USA, als in Europa noch Illustrationen mit Begleittext regierten. Die Innovation sorgte für eine Neudefinition. Keine Zeit für Kaiserin Zita. In einer genialen Marketingaktion wurde 1930 auf dem Bahnhof von Brüssel die Heimkehr des Reporters aus der Sowjetunion inszeniert: Vor jubelnden Massen entstieg ein Schauspieler als Tintin – so Tims Originalname – dem Zug, Herge´ eilte mit einem Eimer Pomade hinterher, um die Tolle in Form zu halten – und ließ daher die ehemalige österreichische Kaiserin Zita stehen, ein Fan der ersten Stunde. Binnen Jahren waren es Hunderttausende im frankobelgischen Raum, nach dem Weltkrieg wurden es Millionen um den Globus.
Doch schämte sich Herge´ später seines ersten Erfolgs: Sein Herausgeber, Pater Wallez, der berüchtigterweise ein Mussolini-Foto auf dem Schreibtisch hatte, gab ihm ein antikommunistisches Propagandabuch als einzige und einseitige Quelle. Herge´ würde bald den Wert umfassender Recherche erkennen: Zeitlebens hortete er Bilder, Artikel und Bücher, die zur Grundlage detailgenau ausgeführter Zeichnungen wurden. Als er 1950 sein eigenes Studio mit entlastender Arbeitsteilung gründete, posierten die Mitarbeiter tagelang füreinander, um die optimale Haltung der Comicfiguren zu erarbeiten. Herge´ distanzierte sich vom