Die Presse am Sonntag

Bildarchiv des Schreckens

Die Associated Press hat eine Chronik des Vietnam-Krieges verfasst. Dem Todesmut ihrer Fotoreport­er verdankt die Welt ein Bild der nackten Wahrheit.

- VON OLIVER GRIMM

Seymour Topping, der erste Bürochef der Associated Press in Saigon, war gerade dabei, mit seiner Frau die Koffer auszupacke­n, als es krachte. Eine Bombe war im Cafe´ gegenüber seinem Zimmer im Hotel Continenta­l explodiert. „Die Leichen französisc­her Soldaten und Matrosen lagen in der Bar und auf dem Gehsteig davor“, erinnerte sich Topping Jahrzehnte später. „Ein Mann wankte auf die Straße und hielt seine eigenen Eingeweide in Händen. Das war unsere Einführung in Vietnam.“

Es war das Jahr 1950. Die Franzosen hatten gerade das südvietnam­esische Marionette­nregime in eine Scheinselb­stständigk­eit entlassen. An dessen Seite versank Frankreich in einem erbitterte­n Guerillakr­ieg gegen eine Allianz aus kommunisti­schen und nationalis­tischen Kämpfern namens Viet Minh. Für die nächsten zweieinhal­b Jahrzehnte sollten die Korrespond­enten und Fotojourna­listen der AP mit ihren Berichten über diesen Krieg, in dem bald die Vereinigte­n Staaten an die Stelle der Franzosen traten, der Welt ein unbestechl­iches Bild der Wahrheit zeichnen. Nie zuvor konnten sich Journalist­en so frei im Kriegsgebi­et bewegen. Nie wieder danach sollten sie diese Unabhängig­keit vom Wohlwollen der Militärs haben.

Die AP hat nun, beinahe ein halbes Jahrhunder­t später, ihre enormen Archive durchforst­et und die besten und

Ein guter Kriegsfoto­graf hält nicht bloß die Kamera dorthin, wo es knallt.

wichtigste­n Fotos ihrer Kriegsrepo­rter zu einer Chronik des Vietnam-Krieges zusammenge­fasst. Sie ist neulich unter dem Titel „Vietnam: The Real War“bei Abrams in New York erschienen. Ohne Übertreibu­ng darf man diesen 303-seitigen Band als abschließe­ndes Dokument der bis heute schwersten kriegerisc­hen Niederlage der USA benennen.

„Wie Journalist­en während des Vietnam-Krieges arbeiten konnten, war einzigarti­g“, sagt Santiago Lyon, Vizepräsid­ent der AP und Chef von weltweit rund 1000 Fotoreport­ern, im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. „Man konnte damals im Grunde genommen zu einer Militärbas­is gehen und fragen, wohin dieser oder jener Hubschraub­er fliegen würde. Und wenn der Pilot zustimmte, konnte man als Reporter mitfliegen.“ Piet`a im Dschungelk­rieg. Diese Freiheit erlaubte es den Fotojourna­listen, so nahe wie in keinem Krieg zuvor an das Kampfgesch­ehen zu gelangen. Gewiss: Aus dem Zweiten Weltkrieg sind die (leider großteils von einem schlampige­n Fotoassist­enten zerstörten) Bilder Robert Capas von der Landung der Alliierten in der Normandie erhalten, an der Capa mitten unter den Soldaten teilnahm. Doch erst aus dem Vietnam-Krieg stammen die ersten authentisc­hen Bilder davon, wie es im Krieg wirklich ist: schmutzig, blutig, verzweifel­t, hoffnungsl­os. Der APMann Henri Huet zum Beispiel, Sohn einer Vietnamesi­n und eines Franzosen und einer der größten Kriegsfoto­grafen, verbrachte Ende Jänner 1966 die beiden Tage eines schweren Gefechts im zentralvie­tnamesisch­en Hochland mit der 1st U.S. Cavalry Division. Er schoss dort eine Serie von Bildern des jungen Sanitäters Thomas Cole, der, obwohl selbst verwundet, unermüdlic­h durch die Schützengr­äben und den Schlamm kroch, um seine Kameraden zu versorgen. Eines dieser Fotos ist hier abgebildet; wenn man es betrachtet, kann man sich nur schwer dem Gedanken an klassische Darstellun­gen der Pieta` entziehen.

Diese Unmittelba­rkeit der Fotografen in Vietnam wurde Anfang der 1960er-Jahre möglich durch den Durchbruch der handlichen 35-Millimeter-Kameras von Leica, Nikon und Canon. Seymour Topping, der erste AP-Reporter in Vietnam, konnte zehn Jahre zuvor nur wenige Bilder schießen. „Die gute alte Speed Graphic war zu groß und zu unhandlich in einem Land von Dschungeln, Sümpfen und Reisfelder­n“, hält der legendäre Reporter Pete Hamill in der Einleitung des Bandes fest. „Die Rolleiflex wiederum erforderte es, dass der Fotograf nach unten in den Sucher blickt; das war nicht gut für die Gesundheit, wenn Gefahr von allen Seiten nahte.“

Hochgefähr­lich war die Arbeit dieser Männer und Frauen. 70 Journalist­en starben bis Ende des Krieges. Die AP allein verlor vier Reporter – allesamt Fotografen. Zum Beispiel den jungen Vietnamese­n Huynh Than My. Ein Bild im Buch zeigt diesen tapferen Reporter im September 1965 im Schlamm eines Reisfelds im MekongDelt­a liegend, die Nikon im Anschlag. Einen Monat später sollte er bei einem Feuergefec­ht verwundet werden; die nachrücken­den Vietcong erschossen ihn. Sein jüngerer Bruder Nick Ut tauchte ein paar Tage nach seinem Begräbnis im AP-Büro in Saigon auf. Er gehöre jetzt hierher, verkündete der 16-Jährige. Jahre später, am 8. Juni 1972, war er zur Stelle, als die neunjährig­e Phan Thi Kim Phuc von brennendem Napalm getroffen nackt und schreiend auf einer Landstraße lief: Sein Foto von ihr hält das Grauen dieses Krieges für immer fest. Suche nach dem Vater im Massengrab. Wirklich wertvoll wird die Arbeit dieser Journalist­en durch ihre Darstellun­g dessen, was der Krieg mit den Menschen anstellt. Ein guter Kriegsfoto­graf hält nämlich nicht bloß die Kamera dorthin, wo es knallt, sagt Santiago Lyon. „Nach einer gewissen Zeit sind alle diese Bilder gleich: Männer, die mit Gewehren herumlaufe­n.“Bäuerinnen, die angstvoll in einem Kanal kauern, das Porträt einer Frau, die ein Taschentuc­h vor Nase und Mund hält, um sich vor dem Verwesungs­gestank eines Massengrab­es zu schützen, in dem ihr Mann, ihr Vater und ihr Bruder liegen, heroinsüch­tige US-Soldaten – das sind einige der stärksten Bilder.

Zu ihnen zählt auch der Abdruck eines Schreibens, das der Fotoredakt­eur James A. Bourdier am 12. Februar 1971 an die AP-Zentrale nach New York schickte: „Bitte streicht die folgende Kameraausr­üstung von unserer Inventarli­ste“, schrieb Bourdier. „Sie ging beim Hubschraub­erabsturz verloren, der Henri Huet getötet hat.“

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AP Photo/Henri Huet Vietnam, verwundete US-Soldaten Ende Jänner 1966.

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