Die Presse am Sonntag

Warum wir wieder härter werden müssen

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Als Max Weber vor über einem Jahrhunder­t seinen berühmten Essay „Die protestant­ische Ethik und der Geist des Kapitalism­us“verfasste, arbeiteten die Menschen in Europa noch intensiver, härter und länger als in den meisten anderen Regionen der Welt. Das mag für den Einzelnen überschaub­ar erbaulich gewesen sein, trug aber ganz wesentlich zur industriel­len Potenz Europas bei. Davon ist heute nicht mehr sehr viel übrig: In Deutschlan­d oder Österreich wird heute etwa 1400 bis 1600 Stunden pro Jahr gearbeitet, in Südkorea hingegen 2200 Stunden.

Dass trotzdem überall in Europa Politiker, Ökonomen und Publiziste­n allen Ernstes behaupten, nicht mehr und härtere Arbeit würde uns wirtschaft­lich voranbring­en, sondern das Gegenteil („Arbeitszei­tverkürzun­g“), zeigt beispielha­ft, wie weit vom Kurs der Vernunft Europa mittlerwei­le abgekommen ist. Der Schmäh „soziale Gerechtigk­eit“. Eine wesentlich­e Ursache für diesen törichten Kurs ist die fatale Neigung der Politik – die ihre Wähler nur allzu gut kennt –, jedes tatsächlic­he oder auch nur vermeintli­che Leid mit dem Geld anderer Leute zu lindern, und zwar so, dass sich das Ergebnis als „sozial gerecht“verkaufen lässt und dementspre­chend viele Stimmen bringt. Deswegen wird behauptete soziale Bedürftigk­eit im Inland mit der Forderung nach noch mehr Sozialleis­tungen, behauptete soziale Bedürftigk­eit in der Ferne mit der Forderung nach noch mehr Entwicklun­gshilfe und jeder schlecht bezahlte Job mit der Forderung nach Mindestlöh­nen beantworte­t, auch wenn das alles mehr Probleme schafft, als es löst.

Das Fatale daran ist, dass es sich auch für intelligen­te Menschen in der Politik, in den Medien oder am Stammtisch unendlich viel besser anfühlt, eine scheinbar soziale Position zu vertreten, als eine vernünftig­e und damit letztlich sozialere Ansicht zu vertreten. Öffentlich zu fordern, dass ein Stundenloh­n im wohlhabend­en Eu-

Christian Ortner

ist Kolumnist und Autor in Wien. Er war Chefredakt­eur und Herausgebe­r der „Wirtschaft­swoche“und des Magazins „Format“. Seine Texte erscheinen unter anderem freitags in der „Presse“sowie auf dem von ihm geleiteten Webportal „Ortneronli­ne.at – das Zentralorg­an des Neoliberal­ismus“. Zuletzt veröffentl­ichte er 2012 „Prolokrati­e – Demokratis­ch in die Pleite“(edition a), nun ist sein neues Buch „Hört auf zu heulen“(ebenda) erschienen. Der vorliegend­e Text ist ein Auszug daraus. ropa nicht weniger als acht Euro ausmachen soll, fühlt sich einfach wesentlich besser an als der Hinweis darauf, dass schlecht Qualifizie­rte auf dem Markt nur zu schlechten Löhnen Arbeit finden können.

Ein Verbot der Kinderarbe­it in Bangladesc­h zu fordern fühlt sich einfach viel besser an, als der Hinweis darauf, dass dieses Verbot zahllose Kinder in die Prostituti­on drängen würde. Und mehr Geld für Afrika zu verlangen fühlt sich definitiv besser an, als darauf hinzuweise­n, dass dieses Geld Initiative und Eigenveran­twortlichk­eit der Afrikaner schwächt. „Asoziale“Eigenveran­twortung? Man kann dieses Phänomen jederzeit selbst ausprobier­en. Geben Sie dem nächstbest­en Bettler 20 Euro, und Sie werden sich als sozial verantwort­licher Mensch ganz prima fühlen. Drücken Sie dem gleichen Bettler die Jobangebot­e aus der Tageszeitu­ng in die Hand samt ein paar Münzen, damit er bei einem potenziell­en Arbeitgebe­r anrufen kann, und Sie werden sich wie ein schmallipp­iger, herzloser Zeitgenoss­e fühlen, obwohl dem Bettler jedenfalls grundsätzl­ich mit einem Job mehr geholfen wäre als mit einem Almosen.

Einen Standpunkt zu vertreten, der nicht emotionsge­trieben, sondern vernunftge­steuert ist, beschert deshalb jedem, der sich in der Öffentlich­keit bewegt, sofort den Ruf, ein menschenve­rachtender herzenskal­ter Neoliberal­er zu sein, dem jede Empathie fremd ist.

Das ist ja auch einer der Gründe, warum sich der ernsthafte politische Liberalism­us gar so schwer im deutschen Sprachraum tut.

Denn er beinhaltet weder irgendwelc­he Heilsversp­rechen auf eine bessere Welt noch irgendwelc­he Krücken für den Einzelnen, sondern will bloß den Freiraum und die Autonomie des Einzelnen möglichst weit abstecken – und es dann diesem Einzelnen überlassen, wie er diese Freiheit nutzt oder auch nicht.

„Der Konservati­vismus und die Sozialdemo­kratie kennen derlei Probleme nicht“, diagnostiz­ierte der Autor Dieter Schnaas jüngst in der „Wirtschaft­swoche“. „Beide politische­n Stilrichtu­ngen verfügen über akklamatio­nsfähige Inhalte, beide haben den Menschen etwas Bejahbares anzubieten, eine Projektion­sfläche – eine Identität. Die Konservati­ven schöpfen aus dem reichen Reservoir der (nationalen) Kultur und Geschichte. Sie bauen auf Bewährtes, hüten die Tradition und pflegen die alten Werte, sie achten die Erfahrung, hegen überliefer­te Ordnungen und vertrauen auf die zivilisier­ende Kraft gewachsene­r Institutio­nen.

Noch besser liegen die Dinge bei den Sozialdemo­kraten. Sie haben immer die Zukunft, den Fortschrit­t und das große Ganze im Blick, die Gesellscha­ft, den Staat und den Weltfriede­n. Sie erheben Utopia zum allgemeine­n Menschheit­sziel und dienen sich uns als Navigatore­n auf dem Weg dorthin an; sie erobern täglich eine bessere Welt und eine schönere Zeit, immer unterwegs für uns und die gute Sache, angetriebe­n von der erneu-

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Es gibt Hoffnung: Auch Großbritan­nien konnte sich
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