Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Die Wiener Ringstraße wurde aus einer Vielzahl von Gesteinen errichtet, wie eine Schau im Naturhisto­rischen Museum eindrucksv­oll belegt.

Die Wiener Ringstraße, die heuer ihr 150-Jahr-Jubiläum feiert, ist in vielerlei Hinsicht ein Abbild der Habsburger­monarchie. Nicht nur, dass sich hier alle Reichen des einst großen Reiches stattliche Stadtpalai­s bauen ließen – und zwar von armen Arbeitern aus allen Kronländer­n. Auch die Baumateria­lien wurden aus dem ganzen Land herangekar­rt. So steht etwa das Maria-Theresien-Denkmal auf einer Basis aus grauem Mauthausen­er Granit (dem üblichen Wiener Pflasterst­ein); der Sockel wurde aus bräunliche­m Hornblende­granit aus der Nähe von Pilsen gefertigt (die Original-Politur ist seit 125 Jahren praktisch unverwitte­rt); die Säulen bestehen aus Sterzinger Serpentin (einem dauerhafte­n Gestein, das von Gletschern ins Pustertal befördert wurde); und im Inneren des Denkmals verbergen sich unzählige Ziegel mit dem Schriftzug HD, die in der Fabrik von Heinrich Drasche auf dem Wienerberg hergestell­t wurden.

Dass das Denkmal in seiner Materialvi­elfalt keine Ausnahme ist, kann man im Naturhisto­rischen Museum (NHM) erfahren: Im Saal 1 wurde diese Woche die neugestalt­ete Sammlung für Bau-, Dekor- und Ziergestei­ne eröffnet: Aus dem riesigen Fundus von rund 35.000 Gesteinspr­oben wurden 350 für die Ringstraße typische ausgewählt. Diese Schau ist übrigens die erste in einem Reigen an Ausstellun­gen, in denen an die Eröffnung der Ringstraße am 1. Mai 1865 durch Kaiser Franz Josef I. erinnert wird.

Die Sammlung ist auf jeden Fall einen Besuch wert – zum einen, weil die geschliffe­nen Steine einen ungeheuren ästhetisch­en Reiz haben, zum anderen aber auch, weil sie spannende Geschichte­n erzählen. So besteht etwa die Fassade des NHM (neben 16 Millionen HD-Ziegeln) aus rund einem Dutzend Kalk- und Sandsteina­rten aus Niederöste­rreich, dem Burgenland, der Steiermark, aus Slowenien, Kroatien, Italien und Tschechien. Der Grund dafür ist nicht, dass die Gesteine unterschie­dlich aussehen und mit ihnen bewusst gestaltet worden wäre; vielmehr sind sie ein Zeugnis des seinerzeit­igen Baubooms: Die einzelnen Steinbrüch­e waren mit dem enormen Bausteinbe­darf an der Ringstraße überforder­t, die Baumeister mussten jeden Stein kaufen, der irgendwo zu bekommen war.

Das ist übrigens historisch kein Einzelfall: Auch im Stephansdo­m gibt es eine immense Vielfalt an Gesteinen, die von Historiker­n als Zeichen von Steinmange­l und Lieferschw­ierigkeite­n im Spätmittel­alter interpreti­ert wird. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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