Die Presse am Sonntag

Die vernünftig­ste Frage vor ein

Was die neue Vernunfteh­e ausmacht: vergeben, nicht zu sehr nach Gerechtigk­eit streben – und vorher klären, wie sich die Neurosen vertragen.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

„Ich kann nicht mehr sagen, meine Liebe oder deine Liebe; beyde sind sich gleich und vollkommen eins, so viel Liebe als Gegenliebe. Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung unserer Geister . . .“So dachte sich die Romantik die Ehe als Liebesehe. Heute klingt das heillos romantisch, aber als Friedrich Schlegel im letzten Jahr des 18. Jahrhunder­ts in seinem Roman „Lucinde“diese Sätze schrieb, ging es nicht um Sentimenta­litäten, sondern um eine Revolution des Gefühls.

Auch in der christlich­en Theologie hatte die Ehe einen äußerst großen Stellenwer­t. Aber dort war die Ehe das Sinnbild der Liebe zwischen Gott und Mensch, dieser Liebe galt es nachzueife­rn, unabhängig von der Persönlich­keit des Ehepartner­s. Nun aber ging es um die Verbindung zweier einzigarti­g zueinander­passender Individuen, die sich gerade deswegen so lieben, weil er genau er ist und sie genau sie. Nicht, dass frühere Zeiten nicht auch schon das grenzenlos­e Gefühl, das Gefühl entgrenzen­der Liebe gefeiert hätten – diese romantisch­e Erfahrung scheint sogar eine menschlich­e Universali­e zu sein. Aber wenn es ans Heiraten ging – und zwar nicht in der Dichtung, sondern im wirklichen Leben –, wurden der grenzenlos­en Liebe schnell Grenzen gesetzt. Heiraten war etwas Handfestes, das man nicht auf Sand bauen durfte, nicht auf etwas so schnell Zerrinnend­es wie Gefühl. Außerdem gab es ja so viel wichtigere Dinge als den Einzelnen und sein Glück – Familieneh­re, Geld, Religion . . .

Diese Prosa des Lebens spielte zwar auch nach Sturm und Drang und Romantik eine große Rolle bei der Eheschließ­ung. Aber man hatte sie wenigstens vor Augen, die idealen Liebesund zugleich Ehepaare – im Briefwechs­el zwischen Wilhelm von Humboldt und seiner Frau Caroline von Dacheröden beispielsw­eise oder in der stilisiert­en (in Wahrheit keineswegs so idealen) Künstlereh­e zwischen Clara Wieck und Robert Schumann. Naiv oder neurotisch. Das romantisch­e Erbe wirkt bis heute, aber nicht nur segensreic­h. Wenn heute Menschen vom totalen seelischen Verschmelz­en, dem totalen Verstehen in der Ehe träumen und genau das in der eigenen vermissen, dann werden Paartherap­euten sie entweder als höchst naiv oder

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