Die vernünftigste Frage vor ein
Was die neue Vernunftehe ausmacht: vergeben, nicht zu sehr nach Gerechtigkeit streben – und vorher klären, wie sich die Neurosen vertragen.
„Ich kann nicht mehr sagen, meine Liebe oder deine Liebe; beyde sind sich gleich und vollkommen eins, so viel Liebe als Gegenliebe. Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung unserer Geister . . .“So dachte sich die Romantik die Ehe als Liebesehe. Heute klingt das heillos romantisch, aber als Friedrich Schlegel im letzten Jahr des 18. Jahrhunderts in seinem Roman „Lucinde“diese Sätze schrieb, ging es nicht um Sentimentalitäten, sondern um eine Revolution des Gefühls.
Auch in der christlichen Theologie hatte die Ehe einen äußerst großen Stellenwert. Aber dort war die Ehe das Sinnbild der Liebe zwischen Gott und Mensch, dieser Liebe galt es nachzueifern, unabhängig von der Persönlichkeit des Ehepartners. Nun aber ging es um die Verbindung zweier einzigartig zueinanderpassender Individuen, die sich gerade deswegen so lieben, weil er genau er ist und sie genau sie. Nicht, dass frühere Zeiten nicht auch schon das grenzenlose Gefühl, das Gefühl entgrenzender Liebe gefeiert hätten – diese romantische Erfahrung scheint sogar eine menschliche Universalie zu sein. Aber wenn es ans Heiraten ging – und zwar nicht in der Dichtung, sondern im wirklichen Leben –, wurden der grenzenlosen Liebe schnell Grenzen gesetzt. Heiraten war etwas Handfestes, das man nicht auf Sand bauen durfte, nicht auf etwas so schnell Zerrinnendes wie Gefühl. Außerdem gab es ja so viel wichtigere Dinge als den Einzelnen und sein Glück – Familienehre, Geld, Religion . . .
Diese Prosa des Lebens spielte zwar auch nach Sturm und Drang und Romantik eine große Rolle bei der Eheschließung. Aber man hatte sie wenigstens vor Augen, die idealen Liebesund zugleich Ehepaare – im Briefwechsel zwischen Wilhelm von Humboldt und seiner Frau Caroline von Dacheröden beispielsweise oder in der stilisierten (in Wahrheit keineswegs so idealen) Künstlerehe zwischen Clara Wieck und Robert Schumann. Naiv oder neurotisch. Das romantische Erbe wirkt bis heute, aber nicht nur segensreich. Wenn heute Menschen vom totalen seelischen Verschmelzen, dem totalen Verstehen in der Ehe träumen und genau das in der eigenen vermissen, dann werden Paartherapeuten sie entweder als höchst naiv oder