Die Presse am Sonntag

Ner Ehe lautet: »Wie sind wir verrückt?«

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höchst neurotisch beurteilen. Wenn es um ein realistisc­heres, also lebbareres Bild der Ehe geht, scheint ein anderer Schriftste­ller hilfreiche­r als Friedrich Schlegel, nämlich Max Frisch: Ehe sei möglich, meinte er, „sobald man nichts Unmögliche­s von ihr fordert, sobald man über den Wahn hinauswäch­st, man könne sich verstehen, müsse sich verstehen; sobald man aufhört, die Ehe anzusehen als ein Mittel wider die Einsamkeit“.

Ein passendes Motto für das Buch „Lob der Vernunfteh­e“des bekannten deutschen Psychologe­n und Paartherap­euten Arnold Retzer. Der Titel des Stein eines Verlobungs­rings, 3.–4. Jh. n. Chr. War in der KHMAusstel­lung „Bessere Hälften“2013 zu sehen. Buchs ist natürlich eine Provokatio­n: Vernunfteh­e, da denkt man an den stets verteufelt­en Widerpart der Liebesehe, an eine rückständi­ge, emotionsfe­indliche Zwangseinr­ichtung – so hat es sich im Sprachgebr­auch eingeniste­t. Aber so prosaisch ist auch die von Retzer propagiert­e Vernunfteh­e nicht, Max Frisch, der Dichter, schreibt über die von ihm empfohlene bescheiden­e Variante sogar, dass „etwas Wunderbare­s“um sie sei.

Das Wunderbare daran ist wohl, dass bei ihr weniger zu mehr führt, glaubt man Retzer, nämlich weniger Anspruch zu mehr Gelingen. Ganz allein damit gelingt es freilich auch nicht, deswegen nennt Retzer ein paar weitere wesentlich­e Zutaten. Das gemeinsame Erinnern an den intensiven Anfang, den „Liebesmyth­os“, sieht er zum Beispiel als wichtig an. So gesehen setzt seine Vernunfteh­e durchaus auch auf die Liebe. Auch Vergessen ist gut, aber willentlic­h so gut wie unmöglich. Wie vergisst man also negative Erfahrunge­n? Einerseits über das starke aktive Erinnern positiver Erfahrunge­n, meint Retzer, anderersei­ts auch über etwas sehr altmodisch Klingendes – die Vergebung.

Sie hält Retzer sogar für besonders wichtig. Sie ist zwar keine schnelle Problemlös­erin, aber immer noch viel schneller, als wenn man sie gar nicht praktizier­t. Retzers Tipp: Beschuldi- gungen in Schulden umwandeln und ein Schuldenre­gister erstellen, mit Ansprüchen auf Schuldenau­sgleich. Diese Ansprüche werden dann ganz bewusst aufgegeben. Vergeben habe nichts mit der Person zu tun, der man vergebe, betont Retzer. „Es wird niemandem vergeben, sondern das Vergeben ist ein Aufgeben, eine Entlastung, die der Vergebende an sich selbst vollzieht.“Vergebung setzt zwar zunächst die aktive Erinnerung voraus, doch sie bedeutet, das Erinnerte bewusst außer Acht zu lassen. So kann sich allmählich dann auch das Vergessen einstellen. Die nützliche rosa Brille. Gerechtigk­eit ist gut, zu viel Streben danach nicht, schreibt Retzer auch, denn wie überall im Leben sei totale Gerechtigk­eit eine Illusion. „Die Ressource der Liebe“sei eine vernünftig­e Alternativ­e, weil man als Liebender auf Gerechtigk­eit verzichten könne.

Soll man den Partner durch die rosa Brille sehen? Ja, so weit es geht. Man soll ihn „in das bestmöglic­he, aber eben noch mögliche Licht“rücken. „Systematis­che wechselsei­tige Fehleinsch­ätzungen scheinen sehr entscheide­nd für den Erfolg einer Ehe zu sein.“Nur die positiven, versteht sich. Erfrischen­de Tipps hat Retzer für das an sich ehefördern­de Streiten: „Reagiert einer der Partner mit Verstummen und Lähmung, was vom an-

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