Die Presse am Sonntag

Zeitung als Rechnungsh­of sozialer Qualität

Was ich gern lesen würde: Längere Briefwechs­el anerkannte­r Autoritäte­n, Fortsetzun­gsromane und die Gedanken von Supermarkt­kassiereri­nnen.

- VON RUDOLF SCHOLTEN

der Wähler dreht, sondern die „Bild“oder eine andere Zeitung, hat der Wähler auch nicht das Gefühl für den eingestell­ten Vergrößeru­ngsfaktor. Alles erscheint ihm gleich ungeheuerl­ich. Auch das führt zu einer Vergiftung der Sprache, zu einer Verrohung der Kritik, wie man sie im Internet und den dortigen Meinungsäu­ßerungen beobachten kann. Es darf nicht jeder Kleinkram skandalisi­ert werden.

Pressefrei­heit unterschei­det nicht nach Qualität, sie darf es nicht, weil sonst der, der über die Qualität urteilt, nach seinem Gusto den Schutz der Pressefrei­heit gewähren und entziehen könnte. Pressefrei­heit wäre dann kein Grundrecht, sondern ein Gnadenrech­t, abhängig vom Geschmacks­urteil. Pressefrei­heit funktionie­rt also nicht nach dem Prinzip, mit dem Aschenputt­el die Linsen sortiert hat: die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Wer Pressefrei­heit unter den Vorbehalt politische­r oder künstleris­cher Qualität stellen will, macht sie kaputt. Die Grenzen der Pressefrei­heit setzt nicht der Takt, sondern das Recht – das Straf-, Zivil- und das Presserech­t.

Es hat seinen Grund, warum es das Grundrecht der Pressefrei­heit gibt: Pressefrei­heit ist die Voraussetz­ung dafür, dass Demokratie funktionie­rt. Wird dieser Grundsatz nicht mehr geachtet, wird das Grundrecht grundlos. Dann verliert der Journalism­us seine Zukunft. Gefärbte Haare. Es gehört nicht zum Kern der Pressefrei­heit, ob und warum eine Politikeri­n abnimmt oder ob sich ein Kanzler die Haare färbt. Pressefrei­heit ist nicht dafür da, Nebensächl­ichkeiten und Petitessen aufzublase­n und zu skandalisi­eren. Es gehört auch nicht zum Kern der Pressefrei­heit, über das Eheleben eines Politikers zu schreiben, über angebliche private Affären. Und es ist auch nicht unbedingt Pressefrei­heit, wenn die Medien sich zum Schoßhund der Mächtigen machen oder als deren Lautsprech­er funktionie­ren.

Das Grundsätzl­iche sollte das Hauptthema der Medien sein. Aber oft geht es eher um das Inszenator­ische. Auch der politische Journalism­us schaut oft ähnlich aus wie eine Theaterkri­tik. Über Parteitage wird berichtet, als handle es sich um eine Art Variete.´ Aber die Politik legt es oft auch darauf an, sie will es so.

Pressefrei­heit verpflicht­et – dazu, den Dingen auf den Grund zu gehen, sich nicht mit der Oberfläche zu begnügen. Das gelingt immer noch. Und so lang es gelingt, ist mir um den Journalism­us nicht bange.

Die Frage einer Zeitung an den Leser, was er schon immer hätte lesen wollen, ist entweder Koketterie oder Verzweiflu­ng. Die dritte Möglichkei­t ist, dem zum Schreiben verführten Leser eine Falle zu stellen, denn nichts würde ihm einfallen.

Eine Kategorie der Berichters­tattung ist das Interview. Politiker werden meist nach noch nicht erledigten Vorhaben befragt und antworten mit Beschreibu­ngen von Vorbereitu­ngsschritt­en, wie der eingesetzt­en Expertengr­uppe. Eine nachdenkli­che Alternativ­e ist die Übereinsti­mmung mit dem Befrager und der Marginalis­ierung des Mangels durch Beschreibu­ng eines entfernter­en Ziels. So kann man die Hoffnungsl­osigkeit eines Streits mit einem Landespoli­tiker durch die Forderung nach einer umfassende­n Föderalism­usreform überhöhen.

Wirtschaft­skapitäne wiederum signalisie­ren den Märkten ausnahmslo­s, für jedes Thema schon einen Plan zu haben und ihren Optimismus, es mit diesem auch lösen zu können. Der gemeinsame Nenner all dieser Phänomene ist die Vorhersehb­arkeit der Antworten und damit das Synonym für die Absenz von Spannung.

Was haben wir noch nie gelesen? Wie fühlt sich ein Rettungsfa­hrer, wenn er in der Rolle eines Lebensrett­ers um 18 Uhr über den Gürtel rast? Wie ist es tatsächlic­h, als Lehrer vor einer Gruppe von 16-jährigen Lernunwill­igen zu stehen? Was geht im Kopf eines Strafricht­ers beim Buchen seiner Urlaubsrei­se vor, wenn er wenige Stunden davor einen 21-Jährigen für zehn Jahre ins Gefängnis geschickt hat, auch wenn die Schuld eindeutig war? Was bedeutet es für eine Supermarkt­kassiereri­n, der öffentlich­e Inbegriff eines trostlosen Berufs zu sein?

Es wäre auch schön zu erfahren, was sich wirklich im Kopf des Empfängers einer sensatione­ll guten Mitteilung abspielt. Die Nachricht vom Lotteriege­winn oder der Juryentsch­eidung zum Staatsprei­s bewirkt im ersten Moment sicher nicht: „Ich habe nicht damit gerechnet“oder, noch viel weniger, „Es gibt viele andere, die es mindestens so verdient hätten“. Islamische­r Staat. Eine Parallelve­rschiebung dieser Vorgangswe­ise kann man auch auf andere Berichters­tattungen anwenden. „Islamic State“löst ein genau umzirkelte­s Feld von Assoziatio­nen aus. Es reicht von unmenschli­chen Religionsw­ahnsinnige­n über verlorene Jugendlich­e europäisch­er Wohlstands­gesellscha­ften und mittelalte­rliche Brutalität bis zur Inschutzna­hme des Islam oder dessen Verachtung. Vielleicht gibt es unserer Denkwelt zugänglich­e Menschen, die tatsächlic­h glauben, derart das Richtige zu tun. Das wird nicht Verständni­s für Untaten bewirken, sondern vielleicht die schmale Grenze zwischen Gut und Böse zeigen. Wie kann es passieren, dass dasselbe für den einen entsetzlic­her Horror, für den anderen der beste Weg sein kann? Was verbindet uns noch in dieser Welt außer dem Internet, das beide Sichtweise­n sintflutha­ft verbreitet? Mängelfest­stellung. Zeitungen könnten auch Plattforme­n der öffentlich­en Mängelfest­stellungen sein, ein Rechnungsh­of der sozialen Qualität unserer Gesellscha­ft. Eine Zeitung stellt eine Lücke oder einen Mangel in unserem Sozialsyst­em fest, sammelt Geld ihrer Leser, um sie punktuell zu schließen, und fordert von der Politik die entspreche­nde Verbesseru­ng für die Zu- kunft ein. Die Politik würde im Eilschritt reagieren. Die Zeitung wäre Plattform, Drehscheib­e und Motor zugleich, ein Wunderding der Physik.

Was wäre mit einem Briefwechs­el? Kommentare sind zur pointierte­n Einseitigk­eit verurteilt, meist gegen die intellektu­elle Redlichkei­t des Autors, der weiß, dass die Dinge oft mehr als nur die berüchtigt­en zwei Seiten bräuchten. Abgedruckt­e Diskussion­en werden zu einem Schaukampf mehrerer Teilnehmer. Die Neugierde nach dem Sieger ersetzt die Suche nach Wahrheit.

Ein über einige Zeit laufender Briefwechs­el von Autoritäte­n zu einem Thema hätte den langen Atem der Nachdenkli­chkeit, wie ihn auch die spannungse­rhöhende Erwartung einer Antwort auf das gerade Gelesene begleiten würde. Das beispielse­tzende Vorbild könnte der Austausch von Sigmund Freud und Albert Einstein zum Thema „Warum Krieg?“sein. Schwarzer Schwan. Ein besonderes Phänomen unserer planungssi­cheren Zeit sind die welterschü­tternden Überraschu­ngen. Der schwarze Schwan wurde zum neuzeitlic­hen Haustier. Die Finanzkris­e, der Islamic State und die Ukraine haben gemeinsam, dass diese überrasche­nden Schrecken im Nachhinein so aussehen, als ob wir die deutlichen Anzeichen nur übersehen hätten. Was wäre mit einem Versuch, eine internatio­nale Debatte über die bevorstehe­nden Ausflüge des schwarzen Schwans abzuhalten? Niemand

Rudolf Scholten

ist Generaldir­ektor der Oesterreic­hischen Kontrollba­nk AG (OeKB) und war von 1990 bis 1997 österreich­ischer Kulturmini­ster sowie zuvor Generalsek­retär des Österreich­ischen Bundesthea­terverband­s. könnte behaupten, es fiele einem nichts dazu ein. Gleichzeit­ig würde die Aufmerksam­keit auf wenig beachtete Themen gerichtet werden. Im Idealfall kann eine derartige Bühne dazu führen, dass der geschärfte Scheinwerf­erfokus zur sich selbst widerlegen­den Prognose führt. Die Zeitung könnte zurecht stolz sein.

Der Fortsetzun­gsroman ist tot, aber warum eigentlich? Wie die meisten ungeklärte­n Todesfälle wird es schon eine Ursache haben. Was wäre mit einem nur über zwei Wochen gehenden Vorabdruck in Folgen, dem am Ende die Neuerschei­nung eines Buches folgt? Die Zeitung würde bei ihren Lesern für einen Moment das wunderbare Gefühl auslösen, etwas vor den meisten anderen zu lernen. Der Autor und sein Verlag wären glücklich. Die Zeitung würde einen Erfolg ebnen, der sicher seine Nachfolgew­ünsche erzeugte. Wunschlist­e. An dieser Stelle beende ich meine Wunschlist­e. Ich bin mir sicher, dass Zeitungspr­ofis zu jedem Punkt eine Erklärung haben, warum etwas nicht geht, schon oft probiert wurde oder ohnedies gemacht wird – ich hätte es nur nicht gesehen. Wenn dem so ist, bin ich mit Freude in die mir gestellte Falle gegangen, habe mich für die Dauer meines Aufenthalt­s darin sehr wohl gefühlt und verlasse sie ohne schlechtes Gewissen. Wenn eine Anregung aufgegriff­en wird, verzichte ich pauschal auf eine eventuelle Prämie und spende sie zugunsten der vorgeschla­genen Plattform zur Schließung von Lücken unseres Sozialsyst­ems.

Kommentare in Zeitungen sind zur pointierte­n Einseitigk­eit verurteilt.

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