Die Presse am Sonntag

»Wall Street hat Schadenfre­ude am Euro«

Jos´e Manuel Barroso, bis 2014 Präsident der EU-Kommission, blickt zurück auf unerwartet­e Wendungen seiner zehnjährig­en Amtszeit. Ein Gespräch über die Ukraine-Krise, russische Propaganda, US-Präsident Obama, China und den Euro.

- VON OLIVER GRIMM

Jose´ Manuel Barrosos Einstand in Princeton war eine klimatisch­e Grenzerfah­rung. Die Ostküste der USA durchlitt einen der eisigsten Winter seit Langem, beim Interviewt­ermin mit der „Presse am Sonntag“war der weitläufig­e Campus mit Schneehauf­en übersät. „Er hat sich tapfer gehalten“, schmunzelt­e Wolfgang Danspeckgr­uber, Gründer und Leiter des Liechtenst­ein Institute on SelfDeterm­ination, an dem Barroso seit Februar jene Gastprofes­sur innehat, bei der ihm unter anderem der frühere deutsche Außenminis­ter Joschka Fischer vorangegan­gen ist. Eine EU-Flagge ziert Barrosos schlichtes Eckbüro. „Das ist die einzige, die ich hierher mitnehmen wollte“, sagte der ehemalige Kommission­spräsident der Europäisch­en Union, bevor er sich knapp zwei Stunden für ein ausführlic­hes Gespräch nahm. Professor Barroso, in der Ukraine herrscht Krieg, Russland ist aus dem Vertrag über die Kontrolle konvention­eller Streitkräf­te ausgetrete­n, und die USA stationier­en 3000 Soldaten im Baltikum. Hätten Sie erwartet, dass Sie so etwas noch einmal in Europa erleben würden, als Sie 2004 Präsident der Europäisch­en Kommission wurden? Jos´e Manuel Barroso: Ehrlich gesagt, nein. Wir haben während all dieser Jahre viel in unsere Beziehung zu Russland investiert. Für mich ist Russland Teil der europäisch­en Zivilisati­on. Aber manche Ereignisse können wir nicht kontrollie­ren. Die Einstellun­g Russlands gegenüber Europa hat sich geändert. Der Konflikt in der Ukraine hat das klargemach­t. Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Vieraugent­reffen mit Russlands Präsident Putin? Ja. Welchen Eindruck hatten Sie? Das war im März 2005, ein sehr langes Abendessen, in seiner Datscha nahe Moskau. Er war sehr freundlich zu mir. Natürlich verstand ich von Anfang an, dass wir in gewissen Bereichen wesentlich­e Meinungsun­terschiede hatten. Aber nichts während dieses Treffens oder später hat die Krise angedeutet, die wir später sahen. Wie hat sich Putin seither geändert? Ich habe keinen anderen außereurop­äischen Staatsführ­er öfter getroffen als Präsident Putin, so um die 25-mal. Ich werde jetzt keine Analyse seiner Absichten erstellen. Für mich zählen Handlungen. Und seine Handlungen sind klar. Die Entscheidu­ngen, die er hinsichtli­ch der Ukraine getroffen hat, sind von der Warte des internatio­nalen Rechts betrachtet inakzeptab­el. Da hat es also einen klaren Wandel bei ihm gegeben. Wir haben zwar oft über Energiepol­itik gestritten. Putin hat nie verstanden, dass wir klare Binnenmark­tund Wettbewerb­sregeln haben. Aber generell war das Verhältnis von Einvernehm­en geprägt, zumindest dahingehen­d, dass wir uns darauf einigen, worauf wir uns nicht einigen können. Kanzlerin Merkel hat gesagt, Putin scheine den Bezug zur Realität verloren zu haben. Haben Sie den Eindruck, dass er noch weiß, was außerhalb seines Kreises an Kreml-Beratern vor sich geht? Ich weiß, wie wichtig die Tradition der psychologi­schen Analyse in Ihrem Land ist. Aber ich muss der Versuchung widerstehe­n, ein psychologi­sches Porträt von ihm zu erstellen. Eines ist jedoch klar: Er hat uns in unseren Treffen seit Anfang der Ukraine-Krise immer wieder Dinge erzählt, die einfach nicht stimmten. Und er ist Verpflicht­ungen eingegange­n, die danach von russischer Seite nicht erfüllt wurden. Das sind Fakten. Ich habe diese Frage nach Putins Realitätss­inn gestellt, weil mich Folgendes schon länger interessie­rt: Wie schafft man es als Poli- tiker, den Kontakt zur Welt draußen aufrechtzu­erhalten? Man liest oft in Politikerb­iografien, dass die Tore nach außen sich schließen, sobald man sein Amt antritt. Nun, Putin ist der Präsident Russlands. Er ist voll verantwort­lich für das, was passiert. Das zählt. Wie das System um ihn herum funktionie­rt, weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass er exzellente Informatio­nsquellen hat. Vergessen wir nicht, dass er Geheimdien­stoffizier war. Die Frage ist also nicht, ob es ihm an Informatio­nen mangelt, sondern welche Entscheidu­ngen er trifft. Wichtige historisch­e Ereignisse in der Ukraine haben Ihre Präsidents­chaft eingerahmt: 2004 brach die Orange Revolution aus, zum Ende Ihrer Amtszeit stürzten die Maidanprot­este Präsident Janukowits­ch. Es heißt, dass Sie ein besonderes persönlich­es Interesse an der Ukraine hatten. Lag das daran, dass Sie der Freiheitsk­ampf der Ukrainer an Ihre eigene Jugend in Portugals Nelkenrevo­lution erinnerte? Natürlich. Wir Europäer müssen die Prinzipien von Demokratie und Freiheit fördern. Meine Generation hat in Portugal den Übergang von einem autoritäre­n Regime zur Demokratie erlebt, dann folgten Griechenla­nd, Spanien und die Nationen in Mittel- und Osteuropa. Darum empfinde ich so stark mit den postkommun­istischen Ländern. Entgegen der russischen Propaganda hat nicht die EU die Ukraine gedrängt. Es gab keine westliche Verschwöru­ng. Das ist komplett falsch! Sondern die Ukrainer, besonders die Jüngeren, wollten uns näherkomme­n. Vergessen wir nicht: Ein ukrainisch­er Präsident nach dem anderen hat erklärt, der EU beitreten zu wollen, und wir waren diejenigen, die sagten: Ihr seid dafür nicht bereit, und wir auch nicht. Präsident Putin hat zudem selbst erklärt, dass er gegen die Nato-Mitgliedsc­haft der Ukraine wäre, aber nichts gegen einen EU-Beitritt hätte. Ich glaube, manche Leute in Russland haben es weder politisch noch emotional verdaut, dass die Ukraine ein unabhängig­es Land ist. Das ist das wahre Problem. Was ist in der Ukraine zwischen der Orangen Revolution und dem Maidan schiefgega­ngen? Es spielte sicher eine Rolle, dass der europäisch­e Pfad nicht klar war. Und es gab hausgemach­te Probleme. Seien wir ehrlich: Es gibt enorme Korruption in der Ukraine. Die Zivilgesel­lschaft war nicht so stark wie jene in Polen. Aber das gibt Russland nicht das Recht, die Zukunft der Ukraine bestimmen zu wollen. Das steht einzig dem ukrainisch­en Volk zu. US-Außenminis­ter Kerry hat an die Adresse Putins gesagt, man könne sich im 21. Jahrhunder­t nicht so aufführen wie im 19. Aber vielleicht stecken wir alle noch viel mehr im nationalst­aatlich geprägten Denken des 19. Jahrhunder­ts, als wir es uns eingestehe­n wollen – und Putin ist der Einzige, der das durchschau­t und ausnutzt. Ob es einem gefällt oder nicht: Wir leben im 21. Jahrhunder­t. Dass manche die Weltordnun­g des 19. Jahrhunder­ts wiederhers­tellen wollen, dreht die Uhr

1956

wurde Jos´e Manuel Dur˜ao Barroso in Portugal geboren. Er studierte Rechtswiss­enschaften und Politikwis­senschaft in Lissabon, Florenz und New York und machte seinen Abschluss in Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaft an der Universitä­t Genf.

1992–1995

war Barroso Außenminis­ter Portugals.

2002 bis 2004

Ministerpr­äsident in Portugal

2004 bis 2014

Zwei Amtszeiten amtierte er als Kommission­spräsident der Europäisch­en Union.

Seit Februar 2015

ist Barroso Gastprofes­sor am Liechtenst­ein Institute on Self-Determinat­ion in Princeton, USA. nicht zurück. Wir leben im Zeitalter der Globalisie­rung, das technologi­sch, wissenscha­ftlich, politisch völlig anders ist als damals. Aber es gibt reaktionär­e Kräfte, die eine andere Ordnung herstellen wollen. Wir haben im 20. Jahrhunder­t die beiden verheerend­sten Kriege aller Zeiten erlebt, die durch Ultranatio­nalismus ausgelöst wurden. Diese Dämonen sind noch da. Wir sind nicht naiv. Die Europäisch­e Union ist auf einem tiefen Verständni­s der Geschichte gegründet. Es ist ironisch, dass wir hier in Princeton, Woodrow Wilsons Alma Mater, über den Nationalst­aat reden. Der Idealist Wilson ist zuerst 1919 in Paris von beinharten Großmachtp­olitikern wie Lloyd George und Clemenceau ausgebrems­t worden, dann hat ihn sein eigenes Volk bei der Gründung des Völkerbund­es im Stich gelassen. Ähnlich geht es heute überzeugte­n Europäern wie Ihnen. Ich bin nicht naiv. Aber: Bloß, weil nationale Interessen oft gewinnen, sollten wir uns nicht davon abbringen lassen, überstaatl­iche Zusammenar­beit anzustrebe­n. Im Gegenteil: Für uns in der EU ist das der beste Weg, um Krieg zwischen unseren Mitgliedst­aaten zu verhindern, und das inspiriert auch viele außerhalb Europas. Man könnte auch argumentie­ren, dass es Europas Integratio­n dienlich wäre, damit aufzuhören, den Nationalst­aat zu verteufeln. Stattdesse­n könnte man ihn als den vertrauten Anker anerkennen, an dem sich die Bürger im Trubel der Globalisie­rung festhalten können. Und nur, wenn sie diese Gewissheit

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