Die Presse am Sonntag

»Alles in Ordnung, Mama?«

In Österreich ist jemand armutsgefä­hrdet, wenn er weniger als 1104 Euro pro Monat verdient. Beate K. hat etwa 1000 Euro zur Verfügung – für sich, ihre zwei Töchter und den Enkel.

- VON NORBERT RIEF

Beate K. (Name geändert) hätte viele gute Gründe, in Selbstmitl­eid zu versinken. Als Kind ungewollt und bei den Großeltern aufgewachs­en, vom Mann in der vermeintli­chen Liebesehe mehrmals krankenhau­sreif geprügelt, ein Baby, das mit zweieinhal­b Monaten am plötzliche­n Kindstod stirbt, vom letzten Arbeitgebe­r ausgenutzt und dann während des Krankensta­nds entlassen, und jetzt noch die Bank, die ihr in diesem Monat nur 520 Euro ließ, mit der sie die Miete zahlen soll, die Betriebsko­sten und das Essen für ihre zwei Töchter und das Enkelkind.

Ja, es gäbe viele gute Gründe, hier in dem kleinen Wohnzimmer in WienSimmer­ing zu sitzen und zu weinen. Aber Beate K. weint nicht, wenn sie von ihrem Leben erzählt. Hin und wieder bekommt sie feuchte Augen, wenn sie sich etwa an die Zeit im Frauenhaus erinnert oder daran, wie überforder­t sie war, als zum täglichen Kampf ums Überleben die Schwierigk­eiten mit ihrer pubertiere­nden Tochter kamen. Aber das ist schon alles, was sich die 41-Jährige an Emotionen erlaubt. „Ich muss stark sein für meine Kinder“, sagt sie. „Sie sollen nicht spüren, wie verzweifel­t ich manchmal bin.“ 1000 Euro pro Monat. 1,5 Millionen Menschen in Österreich sind laut Statistik armutsgefä­hrdet. Laut EU-Definition fällt jemand in diese Kategorie, der monatlich weniger als 60 Prozent des Nettomedia­neinkommen­s zur Verfügung hat. Die Schwelle liegt damit in Österreich bei 1104 Euro pro Monat für einen Einpersone­nhaushalt. Beate K. hat in einem durchschni­ttlichen Monat etwa 1000 Euro zur Verfügung – für einen Vierperson­enhaushalt.

„Man muss jonglieren“, sagt sie, und meint damit den Umgang mit Rechnungen, mit den Wohnungsko­sten und dem Geld, das man zum Leben braucht. „Jonglieren“heißt abzuschätz­en, was man diesen Monat zahlen muss und was man schuldig bleiben kann. „Die Strom- und Gasrechnun­g kann man später zahlen, dafür haben wir etwas zum Essen.“

Die monatliche Jonglierma­sse sieht so aus: Aktuell ist K. im Krankensta­nd und erhält 434 Euro. Die Stadt Wien zahlt zusätzlich 328 Euro Mindestsic­herung. Die Alimente für die kleine Tochter (13) machen 256 Euro aus, ihre älteste Tochter (19) erhält für ihr Kind (vier Jahre) 160 Euro Alimente. Familienbe­ihilfe gibt es für die älteste Tochter nicht, weil die Behörde die Ausbildung nicht anerkennt (sie macht eine Ausbildung zur Versicheru­ngskauf- frau). Für die jüngere Tochter wird aktuell nichts bezahlt, weil die Behörden meinen, im vergangene­n Jahr zu viel bezahlt zu haben.

Macht also theoretisc­h und im besten Fall monatlich 1178 Euro. Davon ist die Miete zu bezahlen (323 Euro für 62 Quadratmet­er für vier Personen im Gemeindeba­u), Strom und Gas (etwa 150 Euro), der Kindergart­en für den Kleinen (65 Euro), die Handyrechn­ungen, Lebensmitt­el aus dem Sozialmark­t im 16. Bezirk („Die Milch kostet dort nur 50 Cent“), Kleidung, hin und wieder ist in der Schule etwas fällig – „am Ende des Monats bleibt nichts übrig“.

Und das ist ein guter Monat. Ein schlechter ist einer wie der Jänner, als K. ihren Job als Kellnerin verloren hat. Sie war im Krankensta­nd, den der Arbeitgebe­r nicht bezahlte. Bis die Krankenkas­se übernahm, dauerte es. K. zückt die Bankbelege. Für den Jänner weist das Konto bei der Bank Austria Eingänge in Höhe von 576 Euro aus. Rascheln, neue Ausdrucke. Im Februar waren es 1050 Euro. Im März waren es knapp über 1000 Euro.

Jonglieren. Alle Rechnungen sind Variablen zum Jonglieren, auch das Essen. „Manchmal gibt es halt nur Kartoffeln, die kosten im Vinzimarkt nur einen Euro. An manchen Tagen essen wir nur ein Frühstück.“Und manchmal isst sie halt nichts, sagt K., damit sie genug für die Kinder hat.

»Ich muss mit den Rechnungen jonglieren, damit wir etwas zu essen haben.«

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Caro/Picturedes­k.com Unbemerkte Schicksale im Gemeindeba­u.

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