Die Presse am Sonntag

Armut in Österreich: »Alles in Ordnung, Mama?«

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„Man kann schon drei Tage lang nur von Wasser und Tee leben.“Pause. „Eine unfreiwill­ige Diät“, sagt sie lachend. Warum muss jemand in einem Sozialstaa­t wie Österreich hungern? „Es ist viel falsch gelaufen, teilweise war ich auch einfach naiv.“Wie in ihrem letzten Job als Kellnerin. Die Stadt Wien hatte die Auszahlung der Mindestsic­herung im vergangene­n Jahr wegen fehlender Unterlagen eingestell­t, also musste K. schnell etwas Zusätzlich­es finden.

Der vermeintli­che Retter war ein Wirt in Wien. Gearbeitet hat sie dort von Montag bis Donnerstag jeweils von sieben bis 16.30 Uhr. Angemeldet hat sie der Chef nur mit 20 Stunden. Dafür hat sie täglich – je nach Umsatz und Trinkgeld – 60 bis 70 Euro bar auf die Hand erhalten. Wenn sie krank war, erhielt sie kein Geld; wenn das Lokal geschlosse­n hatte, erhielt sie kein Geld; es gab kein anteiliges Weihnachts- und Urlaubsgel­d.

„Das war eine ziemliche Linke“, sagt sie heute. Aber sie war verzweifel­t und der Wirt nutzte das aus. Zur Arbeiterka­mmer konnte und kann sie nicht gehen, „weil ich ja einen Teil schwarz kassiert habe. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich musste einfach rechnen, wie mir mehr Geld bleibt.“Heuer im Jänner hat sie dann der Chef während ihres Krankensta­nds gekündigt.

Seither sucht sie einen neuen Job. Aber das ist schwierig, weil „ich maximal bis 16.30 Uhr arbeiten kann“. Der Kindergart­en, in dem ihr vierjährig­er Enkel ist, schließt um 17 Uhr. Kommt sie zu spät, muss sie 35 Euro bezahlen. Die älteste Tochter kann ihren Sohn nicht abholen, weil sie derzeit eine Ausbildung macht. Und die jüngste Tochter ist erst 13 Jahre alt.

„Ich müsste mir also eine Tagesmutte­r nehmen, und die kostet 40, 45 Euro.“Das ist bei den angebotene­n Jobs nicht drinnen. Beate K. zückt ein Stellenang­ebot, das sie sich an diesem Tag vom AMS ausgedruck­t hat. Gesucht wird eine Ordination­sgehilfin in Wien, 40 Stunden pro Woche, bezahlt werden dafür laut Kollektivv­ertrag 1180 Euro brutto. „Bereit zur Überzahlun­g“, steht dabei. Aber selbst dann sind die Kosten, die durch das spätere Abholen beim Kindergart­en oder durch die Tagesmutte­r entstehen, einfach viel zu hoch. Bank sperrte Konto. K. sitzt an einem kleinen Tisch in ihrer Gemeindewo­hnung, an einem Ende steht eine Plastikorc­hidee, hinten an der Wand hängen drei Schulfotos der Kinder, darunter zwei Schutzenge­l, die verträumt gen Himmel blicken. Der kleine Hund („Ich zahle vergünstig­te Hundesteue­r von 35 Euro im Jahr“) hat sich unter dem Sofa versteckt, das auch als Bett dient. „Am Abend liegen wir da oft zu viert, ich mit meinen Töchtern und dem Enkel, und schauen fern. Die Älteste schläft oft ein, dann schleiche ich mich mit den Kleinen leise ins andere Zimmer.“

Ihre Kinder, sagt K., würden ihr die Kraft geben, das alles durchzuste­hen. „Ich bin eine Kämpferin. Ich habe seit meiner Kindheit gekämpft, mein Leben ist ein einziger Kampf.“Sie sagt es so oft, dass man den Eindruck bekommt, sie muss sich damit selbst motivieren. Ja, antwortet sie, sie wolle ihren Kindern eine starke Mutter sein. Als ihr neulich die Bank Austria das Konto sperrte und ihr für den März nur 520 Euro ließ, weil sie den Rahmen überzogen und alte Schulden hatte, ging sie nach Hause, schloss die Tür und weinte minutenlan­g vor lauter Wut. „Dann habe ich mir das Gesicht kalt abgewasche­n, damit man nichts sieht, und habe die Kinder abgeholt.“Die Kleine hat sich trotzdem gewundert: „Alles in Ordnung, Mama?“

Nichts ist in Ordnung, aber das sagt sie nicht. Seit der Trennung von ihrem prügelnden Mann vor mehr als zehn Jahren zieht sie die Kinder allein groß. Mehrmals musste sie übersiedel­n, weil ihr Exmann sie immer wieder bedrohte. Von Wien ins Burgenland, dann nach Niederöste­rreich und wieder zurück nach Wien. In der Zeit hielt sie sich mit allen möglichen Jobs über Wasser: Sie putzte, arbeitete als Pflegehelf­erin, half dank ihrer Serbisch-Sprachkenn­tnisse als Dolmetsche­rin bei Behördengä­ngen, sie machte eine Ausbildung zur Ordinati-

»Ich bin eine Kämpferin. Ich habe seit meiner Kindheit immer gekämpft.« »Dass die Jean von der Altkleider­sammlung bei der Caritas ist, weiß niemand.«

onsgehilfi­n, ist diplomiert­e Eventmanag­erin, sie arbeitete als Immobilien­maklerin und immer wieder als Kellnerin in der Gastronomi­e. Teilweise machte sie drei, vier Jobs auf einmal. Die körperlich­en Folgen sind bereits fünf Bandscheib­envorfälle, die psychische­n Folgen wiegen schwerer. Niemand soll etwas merken. Die Wohnung sieht unauffälli­g aus. Eine kleine Küche, ein Wohnzimmer, ein Badezimmer, zwei Schlafzimm­er. Die Küche hat K. um 100 Euro auf willhaben.at gefunden und selbst montiert. Die Kommode beim Eingang war ein Tausch gegen Kindergewa­nd. „Man muss sich zu helfen wissen“, sagt K.

Auch wenn es darum geht, die wahren Verhältnis­se zu verheimlic­hen. Sie versucht alles, damit ihre Kinder „ganz normale Kinder sein können“. Niemand soll merken, wie finanziell angespannt die Situation zu Hause ist. Deshalb hat die 13-Jährige auch ein Smartphone. „Wer kein ordentlich­es Handy hat, wird in der Schule ausgelacht und gehänselt. Und das will ich ihr ersparen.“Auch an der Kleidung sieht man den Kindern die Armut nicht an. „Dass die BenettonJe­an von der Altkleider­sammlung bei der Caritas ist, weiß niemand.“Was sie dort alles um 100 Euro bekomme, „da kann ich uns für den ganzen Sommer einkleiden“. Und wenn einmal ein Schulausfl­ug ansteht, dann muss eben wieder jongliert werden.

Wie soll es weitergehe­n? Beate K. würde gern eine Ausbildung zur Sozialpäda­gogin machen, weil „ich die Situation kenne und den Menschen helfen kann“. Die Aufnahmepr­üfung für das Kolleg für Sozialpäda­gogik hat sie geschafft, aber die Ausbildung kostet 9390 Euro. Sie könnte auch 90.000 Euro kosten, beides ist für Beate K. unbezahlba­r.

Also wird sie wieder zum AMS gehen, wird nach einem Job suchen, bei dem sie um 16.30 Uhr nach Hause gehen kann, um ihren Enkel vom Kindergart­en abzuholen. Am Abend werden sie dann alle wieder auf dem Sofa liegen, die Mama, die zwei Töchter und der Enkel. Und wenn die Älteste eingeschla­fen ist, werden sie in das andere Zimmer schleichen, damit sie sie nicht aufwecken.

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