»Mädchen wurden als Huren bezeichnet und behandelt«
Professor Alexis Jay arbeitete die Vorkommnisse um Kindesmissbrauch in Rotherham in einem Untersuchungsbericht auf. Dass die Verantwortung dafür nicht klar benannt wurde, habe ihr zufolge zur Katastrophe geführt.
Sie haben in Ihrem Bericht sehr klar die Verantwortung von Behörden und Polizei angeprangert. Aber sind die Verbrechen in Rotherham nicht auch ein massives Versagen der Gesellschaft? Alexis Jay: Das kann man sicher so sehen. Aber Bürger, die darauf aufmerksam machen wollten, wurden nicht ernst genommen oder ignoriert. Warum? Das hat viele Gründe. Die Einstellung der Polizei und der Sozialdienste war fragwürdig. Sie behandelten, was vorfiel, nicht als Verbrechen und behandelten die Opfer mit Verachtung. Mädchen wurden als Huren bezeichnet und behandelt, als würden sie den Schutz des Gesetzes nicht verdienen. Kindesmissbrauch war lange kein Thema für die Polizei, man tat so, als handelte es sich um einvernehmliche sexuelle Beziehungen, obwohl manche Opfer erst elf oder zwölf Jahre alt waren. Aber dann ist es ein klarer Verstoß gegen das Gesetz? Absolut, es ist ein Verbrechen, und so hätte man auch damit umgehen müssen. Die Verantwortlichen haben versagt und sind ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden.
Alexis Jay
ist heute Visiting Professor an der University of Strathclyde und war Leiterin des Sozialdienstes in Schottland. Im August 2014 veröffentlichte sie einen Untersuchungsbericht über den Kindesmissbrauch in Rotherham. Ist Rotherham ein einmaliger Fall oder Symptom für ein gesellschaftliches Problem? Letzteres ist der Fall. Aber niemand kennt das wahre Ausmaß von sexueller Ausbeutung, es ist tief verborgen und die Opfer – Mädchen wie Buben – finden es extrem schwierig, ihre Erfahrungen offenzulegen. Mein Bericht spricht von 1400 Opfern, aber das ist eine extrem vorsichtige Annahme. Was sagen uns die Enthüllungen nicht nur in Rotherham über den Umgang der britischen Gesellschaft mit Kindern? Ich will zu keinen voreiligen Schlüssen kommen, denn nichts kann daran etwas ändern, dass es sich um abscheuliche Verbrechen handelt. Das Schlimmste sind Versuche, das Problem unter den Teppich zu kehren. Mein Bericht war vielleicht ein Wegbereiter, dass auch andernorts das Thema offensiv angegangen wird. Zu sagen, sie hat ein kurzes Kleid getragen und wollte es ja, bedeutet nichts anderes, als den Opfern auch noch die Schuld zu geben. Wie ist es möglich, dass die Täter solche schrecklichen Taten begingen? Ist das ein Versagen aller Instanzen, dass Menschen so etwas tun können?