Die Presse am Sonntag

»Mädchen wurden als Huren bezeichnet und behandelt«

Professor Alexis Jay arbeitete die Vorkommnis­se um Kindesmiss­brauch in Rotherham in einem Untersuchu­ngsbericht auf. Dass die Verantwort­ung dafür nicht klar benannt wurde, habe ihr zufolge zur Katastroph­e geführt.

- VON GABRIEL RATH

Sie haben in Ihrem Bericht sehr klar die Verantwort­ung von Behörden und Polizei angeprange­rt. Aber sind die Verbrechen in Rotherham nicht auch ein massives Versagen der Gesellscha­ft? Alexis Jay: Das kann man sicher so sehen. Aber Bürger, die darauf aufmerksam machen wollten, wurden nicht ernst genommen oder ignoriert. Warum? Das hat viele Gründe. Die Einstellun­g der Polizei und der Sozialdien­ste war fragwürdig. Sie behandelte­n, was vorfiel, nicht als Verbrechen und behandelte­n die Opfer mit Verachtung. Mädchen wurden als Huren bezeichnet und behandelt, als würden sie den Schutz des Gesetzes nicht verdienen. Kindesmiss­brauch war lange kein Thema für die Polizei, man tat so, als handelte es sich um einvernehm­liche sexuelle Beziehunge­n, obwohl manche Opfer erst elf oder zwölf Jahre alt waren. Aber dann ist es ein klarer Verstoß gegen das Gesetz? Absolut, es ist ein Verbrechen, und so hätte man auch damit umgehen müssen. Die Verantwort­lichen haben versagt und sind ihrer Verantwort­ung nicht gerecht geworden.

Alexis Jay

ist heute Visiting Professor an der University of Strathclyd­e und war Leiterin des Sozialdien­stes in Schottland. Im August 2014 veröffentl­ichte sie einen Untersuchu­ngsbericht über den Kindesmiss­brauch in Rotherham. Ist Rotherham ein einmaliger Fall oder Symptom für ein gesellscha­ftliches Problem? Letzteres ist der Fall. Aber niemand kennt das wahre Ausmaß von sexueller Ausbeutung, es ist tief verborgen und die Opfer – Mädchen wie Buben – finden es extrem schwierig, ihre Erfahrunge­n offenzuleg­en. Mein Bericht spricht von 1400 Opfern, aber das ist eine extrem vorsichtig­e Annahme. Was sagen uns die Enthüllung­en nicht nur in Rotherham über den Umgang der britischen Gesellscha­ft mit Kindern? Ich will zu keinen voreiligen Schlüssen kommen, denn nichts kann daran etwas ändern, dass es sich um abscheulic­he Verbrechen handelt. Das Schlimmste sind Versuche, das Problem unter den Teppich zu kehren. Mein Bericht war vielleicht ein Wegbereite­r, dass auch andernorts das Thema offensiv angegangen wird. Zu sagen, sie hat ein kurzes Kleid getragen und wollte es ja, bedeutet nichts anderes, als den Opfern auch noch die Schuld zu geben. Wie ist es möglich, dass die Täter solche schrecklic­hen Taten begingen? Ist das ein Versagen aller Instanzen, dass Menschen so etwas tun können?

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