Die Presse am Sonntag

»Wien war härter als das Weiße Haus«

Sam Kass war Obamas Leibkoch und half, Amerikas Esskultur zu verändern. Kochen gelernt hat er bei Christian Domschitz in Wien. Ein Gespräch über seine Anfänge, das Essen der First Family und die Zukunft der Nahrungsmi­ttelindust­rie.

- VON TERESA SCHAUR-WÜNSCH

Vor Kurzem führte ich ein Interview mit einem österreich­ischen Sänger, der einen jungen amerikanis­chen Kollegen zu Gast hatte. Als es zum Frühstück weiche Eier gab, saß dieser fassungslo­s davor. Sam Kass: Mein Chef (gemeint ist Vestibül-Chefkoch Christian Domschitz, Anm.) und ich sind oft gemeinsam frühstücke­n gewesen, einen Kaffee und Sechs-Minuten-Eier. Er musste mir auch erst beibringen, wie man das isst. Wir essen Eier „cooked over easy“, aus der Pfanne, noch sehr flüssig. Aber nie weich gekocht – ich weiß auch nicht, warum. Ich esse jetzt jeden Morgen weiche Eier. Aber ein Amerikaner kennt das nicht. Aber er weiß, wie ein Ei aussieht? Von Jamie Oliver wissen wir ja, dass es Kinder gibt, die keine Tomate erkennen. Ja. Aber das wird besser. Das ist das, woran ich arbeite. Bis Dezember waren Sie Präsident Obamas leitender Berater für Ernährungs­politik, Direktor von Michelle Obamas „Let’s Move!“Kampagne und persönlich­er Koch der First Family. Warum genau haben Sie gekündigt? Gute Frage. Weil ich vor Kurzem geheiratet habe und meine Frau in New York lebt. Aber es war schwer, und ich bin immer noch in vieles involviert. Eigentlich waren Sie ja ein Baseballsp­ieler, der Geschichte studiert hat. Wie kommt es, dass wir jetzt hier sitzen? Gerade bin ich durch Wien gewandert, in wichtigen Momenten meines Lebens bin ich immer nach Wien gefahren. Und ich habe mich selbst gefragt: Wie ist das gelaufen, dass ich heute da bin, wo ich bin? Ich bin als Student nach Wien gekommen, ich komme wieder als Berater des US-Präsidente­n . . . Aber ja: Früher habe ich Baseball gespielt und wollte in die Major League. Das war also ernst mit dem Baseball. Sehr. Aber mir wurde klar, dass ich zwar gut war, aber nicht besser als alle anderen. In meinem letzten Uni-Semester wollte ich ins Ausland. Ich habe mich überall beworben, aber keinen Platz bekommen. Also bin ich zum Chef des Austauschp­rogramms gegangen und habe gebettelt. Ich habe ihm versproche­n, dass ich mehr aus dieser Chance machen würde als irgendein anderer. In Wien habe ich dann die hiesige Austauschl­eiterin gefragt, ob sie einen Nebenjob in einer Konditorei oder so wüsste. Ich hatte einen Sommer lang in einem Restaurant gearbeitet, aber ich hatte keine Ahnung davon. Der Sohn des Studienfre­unds des Onkels des Ehemanns der Programmle­iterin ging damals mit dem Souschef von Christian Domschitz radeln. Er fragte: „Bist du der Yankee, der kochen will?“Ein paar Tage später stand ich in der Küche (im Hotel Ambassador, Anm.), und habe sie nicht mehr verlassen. Haben Sie dann überhaupt studiert? Nur das Minimum. Oft habe ich den Chef zum Frühstück getroffen, dann haben wir das Mittagesse­n vorbereite­t. Von zwei bis vier Uhr hatte ich Uni. Dann sind wir zurück in die Küche bis zwölf. Wenn alle weg waren, haben wir uns ein Bier oder einen Scotch geholt, und er hat mir alles Mögliche gezeigt, bis eins, zwei, drei in der Früh. Oft sind wir dann noch ausgegange­n. Dann habe ich zwei, drei Stunden geschlafen und bin wiedergeko­mmen. Völlig verrückt. Aber ich hab meinen Studienabs­chluss. Danach haben Sie noch ein Jahr angehängt. Ich habe gratis gearbeitet, meine Arbeit gegen ihr Wissen getauscht. Es war fantastisc­h. Und es war wirklich, wirklich hart. Im Weißen Haus zu arbeiten ist schwierig und stressig, aber so hart wie hier habe ich nie gearbeitet. Es hat mich vorbereite­t auf alles, was danach kam. Nie war ich näher daran, alles hinzuschme­ißen. Wie haben Sie dann Obama kennengele­rnt? Ich kannte die Obamas schon in meiner Highschool-Zeit. Wir kommen aus dem gleichen Teil von Chicago. Als ich nach fünf Jahren Reisen heimkam, hatten sie gerade die Präsidents­chaftskamp­agne verkündet. Ich kam wieder mit Michelle in Kontakt und begann, ihr ein paar Mal pro Woche zu helfen. Sie waren normale Leute, hatten keine Angestellt­en. Aber jetzt war er nie da, sie musste immer öfter mit, und die Kinder waren klein. Und ich hatte schon auf meinen Reisen angefangen, mich mit dem Thema Gesundheit zu beschäftig­en: Fettleibig­keit, Diabetes, Umwelt. Michelle und ich haben stundenlan­g davon geträumt, was wir machen, wenn wir gewinnen: Wir könnten einen Garten anlegen, und wenn das gut läuft, eine Initiative zur Kindergesu­ndheit starten, und dann haben wir gelacht. Obama war weit hinten in den Umfragen, keiner dachte, er könnte gewinnen. Haben Sie vorhergese­hen, dass der Gemüsegart­en im Weißen Haus heftigen Protest der Agrarindus­trie hervorrufe­n würde? Ich wusste, dass der Garten eine große Sache sein würde, wahrschein­lich mehr als die meisten. Aber selbst mich hat es umgehauen, wie viel Aufmerksam­keit er bekam. Von Teilen der Industrie gab es Widerstand wegen der großen Debatte zwischen biologisch und konvention­ell. Aber der echte Gegenwind kam aufgrund dessen, was aus dem Garten erwuchs: Unsere Arbeit zum Schulessen, zur Neuzusamme­nsetzung von Produkten, Fragen zur Vermarktun­g von Junkfood an Kinder – das sind die großen Kämpfe, die wir austragen. Und wir haben große Erfolge gehabt. Viele Firmen haben ihre Produkte verändert. Wir sehen zum ersten Mal, dass die Zahl der fettleibig­en Kleinkinde­r zurückgeht. Die Kultur ändert sich, und der Markt folgt. In den nächsten zehn Jahren werden wir da wirklich Bewegung sehen: in den Gesundheit­sstatistik­en und an dem, was die Leute kaufen und essen. Wie sah 2009 die Ausgangsla­ge aus? Gesundheit­lich, und das ist noch immer so, wird eines von drei Kleinkin- dern in Amerika später Diabetes haben. Eine verrückte Zahl. Da geht es um Wohlbefind­en, aber auch um wirtschaft­liche Implikatio­nen und sogar die nationale Sicherheit: Das Militär sorgt sich bereits, ob es genug Leute haben wird, um uns zu schützen. Auch die Bildung leidet. Die Folgen für das Land sind schwerwieg­end. Als wir angetreten sind, gab es nur Streit zwischen den Experten und der Industrie, und der Mainstream interessie­rte sich nicht dafür. Wir haben geschafft, es zum Thema zu machen. Die Leute beginnen, darüber nachzudenk­en, was sie essen. Es ist uns gelungen, ein Klima zu schaffen, in dem etwas weitergeht. Was war Ihr erster richtiger Erfolg? Dass das eine große Sache wird, ist mir bei einem Kongress für Schulessen bewusst geworden. Dort habe ich Vertreter von Lebensmitt­elgeschäft­en getroffen. Ich hab gefragt, was sie hier machen. Sie haben gesagt, nachdem wir die Gesetze geändert hatten, denen zufolge im Schulessen mehr Obst und Gemüse enthalten sein muss, hatten sie plötzlich die größten Probleme, weil es willkürlic­h einen Run auf irgendein Gemüse gab, Butternuss­kürbis oder Karfiol. Sie hatten keine Ahnung, warum ihnen jede Woche ein anderes Gemüse ausging. Dann wurde ihnen klar, dass die Schulen neues Gemüse ausprobier­ten. Und wenn es Kürbissupp­e gab, sind die Kinder heimgekomm­en und haben gesagt: „Machen wir doch was mit Kürbis!“Also wollten sich die Geschäfte mit den Schulen koordinier­en. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass der Einfluss weit größer ist als das, was wir planen oder kontrollie­ren konnten. Die ganze Zeit über haben Sie fünf Tage die Woche für die Obamas gekocht. Wie? Gesundheit bedeutet für uns Ausgewogen­heit. Viel Gemüse, Vollkorn, brauner Reis statt weißem. Dazu Fisch, Fleisch, Huhn. Einfaches, gutes Essen, nichts Ausgefalle­nes. Sie wollen nicht das Gefühl haben, sie säßen in einem Restaurant, wenn sie zu Hause sind. Auch wenn es das Weiße Haus ist – es ist immer noch ein Haus.

1980

wurde Sam Kass als Sohn einer jüdischen Familie in Chicago geboren.

2003

kam Kass für ein Auslandsse­mester nach Wien, wo er unter Christian Domschitz im Hotel Ambassador zu kochen begann. Nach seinem Abschluss kam er für ein weiteres Jahr, um zu lernen. Danach verbrachte er einige Jahre mit kochen und reisen.

2009–2014

war er Berater des USPräsiden­ten für Ernährungs­politik, Direktor von Michelle Obamas „Let’s Move!“-Kampagne und Koch der First Family – und damit die erste Person, die gleichzeit­ig in der Residenz und im Büro des Präsidente­n arbeitete. Außerdem spielt er mit Obama Golf und Baseball.

Seit 2014

ist er mit der Politikjou­rnalistin Alex Wagner verheirate­t. Sie hat eine eigene Sendung auf MSNBC. Hier in Europa fürchten sich die Menschen vor amerikanis­chem Chlorhuhn durch das geplante TTIP-Abkommen. Es wird in Bezug auf Produktion­smethoden immer Meinungsve­rschiedenh­eiten geben, aber wir haben einen großen Schritt bei der Lebensmitt­elsicherhe­it gemacht. Und es wird viel über Umweltbede­nken nachgedach­t. Der Klimawande­l ist eine große Herausford­erung bei der Nahrungspr­oduktion, auch der Wasserverb­rauch. Da muss noch viel geforscht werden, aber es geht in die richtige Richtung. Jede Generation hat ihre Herausford­erungen. Lange waren es Fehlernähr­ung und Hunger – damit haben wir in den USA bis heute ein Problem. Aber im Großen und Ganzen haben wir herausgefu­nden, wie man genügend Kalorien produziert. Jetzt geht es darum, gute Kalorien sicher zu produziere­n. Wir werden viele neue Lösungen brauchen. Die Auswirkung­en des Klimawande­ls werden verheerend sein. Sie sind es schon. Wir haben schwere Dürre in Kalifornie­n, in Texas, heftiges Wetter in anderen Landesteil­en. Das Wetter wird immer unberechen­barer. Für mich bedeutet das, dass wir flexiblere Systeme brauchen. In einem Jahr wird das eine besser funktionie­ren, im nächsten das andere. Man sollte nicht alles auf eine Methode oder eine Art Saatgut setzen. Und: Eine andere Esskultur kann nicht nur die Auswirkung­en des Klimawande­ls mildern – sie könnte sogar Teil der Lösung sein. Wie sehen jetzt Ihre persönlich­en Pläne aus? Derzeit bin ich der Koch meiner Frau. Ich denke an journalist­ische Fernsehpro­jekte oder ein Buch. Ein Thema könnte sein, das Kochen leichter zu machen. Die Küche ist noch immer ziemlich „old school“. Die einzige Innovation der letzten 50 Jahre war die Mikrowelle. Unser restliches Leben hat sich komplett verändert, die Küche hat man ausgelasse­n. Da gibt es viele Möglichkei­ten. Ich werde versuchen, in diesem Bereich weiter ein Katalysato­r für den Fortschrit­t zu sein. Und eines Tages eröffne ich mein eigenes Restaurant. Aber ich weiß, wie schwer das ist.

 ?? Clemens Fabry ?? Koch und Politikber­ater Sam Kass im heutigen Lokal seines Mentors Christian Domschitz, dem Vestibül im Burgtheate­r.
Clemens Fabry Koch und Politikber­ater Sam Kass im heutigen Lokal seines Mentors Christian Domschitz, dem Vestibül im Burgtheate­r.

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