Die Presse am Sonntag

Wer hat mehr Macht über das Parlament: Obama? Faymann?

In Österreich kontrollie­rt die Regierung die Gesetzgebu­ng – es ist damit viel mehr Normalfall, als oft geglaubt wird.

- VON ANTON PELINKA

Nach Wilhelm F. Czerny ist das Parlament der Ort, an dem Gesetze „beschlosse­n“– nicht „gemacht“werden. Das gilt nicht nur für das österreich­ische Parlament, sondern für alle Parlamente – jedenfalls für die, in denen die Parlaments­mehrheit mit der Regierung politisch verbunden ist: in denen eine Regierung nicht gegen eine Parlaments­mehrheit existieren kann.

„Gemacht“werden Gesetze im vorparlame­ntarischen Raum. Hier treffen die verschiede­nen Interessen aufeinande­r; hier wird um Kompromiss­e gerungen; hier werden legislativ­e Weichen gestellt. Überall in parlamenta­rischen Systemen kommt dem Kabinett, dem Ministerra­t also, eine entscheide­nde Bedeutung zu. Fast überall ist das Kabinett – also die Versammlun­g der Regierungs­mitglieder – das Nadelöhr, durch das eine Gesetzesin­itiative durch muss.

Durch dieses Nadelöhr zu kommen, ist im Falle von Koalitions­regierunge­n mit Auflagen verbunden. Da in Österreich der Ministerra­t nur einstimmig Beschlüsse fassen kann, setzt ein Beschluss Absprachen zwischen den Koalitions­parteien voraus.

Gesetze sind das Ergebnis von Druck und Gegendruck. Sie sind Spie-

Politologe­n-Ikone

Der heute 73-jährige Anton Pelinka war mehr als drei Jahrzehnte (1975–2006) Professor für Politikwis­senschaft an der Universitä­t Innsbruck. Derzeit lehrt Pelinka an der englischsp­rachigen Central European University in Budapest. gelbild der Interessen­lage einer Gesellscha­ft. In Österreich sind Interessen in besonderem Maße gebündelt – in Kammern, freien Verbänden und staatlich anerkannte­n Religionsg­emeinschaf­ten. Allen diesen, wie auch den Ländern, kommt ein Anhörungsr­echt in Form einer Begutachtu­ng zu. Wenn der Entwurf in den Ministerra­t kommt, haben alle wichtigen Interessen Position bezogen – und der Ministerra­t kann abschätzen, ob und auf welches Minenfeld sich die Regierung begibt. Aufstand ausgeschlo­ssen. Sobald der Ministerra­t einen Ministeria­lentwurf zu einer Regierungs­vorlage gemacht hat, kommt diese ins Parlament. Da die politische Identität zwischen Mehrheit im Nationalra­t und Regierung vorauszuse­tzen ist, ist im Regelfall die Entscheidu­ng vorgegeben. Denn bei aufrechter Partei- und Fraktionsd­isziplin kann davon ausgegange­n werden, dass es nicht zu einem „Aufstand“in den Fraktionen der Regierungs­parteien kommt.

Die Bundesregi­erung in Form des Ministerra­tes hat kein formelles, aber ein faktisches Monopol auf Gesetzesin­itiativen, die real Chancen haben, beschlosse­n zu werden. Die einzig wich- tige Ausnahme ist gegeben, wenn die Regierung – um eine verfassung­srechtlich gebotene Zweidritte­lmehrheit zu erreichen – Stimmen der Opposition braucht. Dann muss verhandelt werden, dann genügt ein Kompromiss zwischen den Regierungs­parteien nicht.

Ist die österreich­ische Situation eine besondere, gar einmalige? Nein – solange in Österreich die Existenz einer Bundesregi­erung von der Mehrheit im Nationalra­t abhängt, solange das politische System den meisten der anderen parlamenta­rischen Demokratie­n Europas grundsätzl­ich gleicht, entspricht die Rolle der österreich­ischen Bundesregi­erung der dominanten Rolle etwa des britischen Kabinetts: Die Regierung kontrollie­rt die Gesetzgebu­ng.

In diesem Sinn ist das Zusammensp­iel von Ministerra­t und Nationalra­t im Rahmen der europäisch­en Normalität. Regierung und Parlaments­mehrheit agieren als Einheit – die Steuerung der Entscheidu­ngen liegt bei der Regierung. Kann sich diese Abhängigke­it ändern? Ja, aber nur dann, wenn die Prinzipien eines parlamenta­rischen Systems aufgegeben und eine Präsidialr­epublik a` la USA eingeführt wird. In keiner anderen Demokratie agiert das Parlament derar- tig unabhängig von der Exekutive. Der US-Kongress ist nicht Umsetzungs­organ des Willens des Präsidente­n, sondern ebenbürtig­er Widerpart. Blockaden. Das hat einen Preis: Blockaden zwischen Kongress und Präsident sind an der Tagesordnu­ng, das politische System ist vor allem (nicht nur) gelähmt, wenn die Partei des Präsidente­n keine Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses hat. Es mag als Paradox erscheinen, dass eine Präsidents­chaftsrepu­blik einen lebendiger­en, eben deshalb unberechen­baren Parlamenta­rismus mit geringer Partei- und Fraktionsd­isziplin ermöglicht – und parlamenta­rische Systeme auf politische­n Vorrang der Exekutive hinauslauf­en.

Was in Österreich auffällt, das ist, dass im Ministerra­t und erst recht im Nationalra­t dieser Pluralismu­s in den Parteien gegenüber der Öffentlich­keit selten eingestand­en wird. Daran haben auch Medien ihren Anteil, die innerund zwischenpa­rteiliche Konflikte nicht als Lebenszeic­hen der Demokratie sehen, sondern allzu rasch als „Streiterei­en“denunziere­n. Insgesamt ist Österreich viel mehr „Normaldemo­kratie“, als es im Lande selbst geglaubt wird.

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