Die Presse am Sonntag

»Da gibt es Grenzen des Zumutbaren«

Die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderun­g sei ein gutes Anliegen, sagt der Pädagoge Bernd Ahrbeck – trotzdem sollten Sonderschu­len nicht abgeschaff­t werden. Inklusion werde viel zu moralisch diskutiert.

- VON BERNADETTE BAYRHAMMER

Herr Ahrbeck, hätten Sie ein Kind, das im Rollstuhl sitzt: In welche Schule würden Sie es schicken? Bernd Ahrbeck: Kinder im Rollstuhl sind ja nun sehr unterschie­dlich. Aber auf die allgemeine Frage hin würde ich sagen: Ich würde das Kind erst einmal in die allgemeine Schule schicken, wenn dort die notwendige­n Bedingunge­n für das Kind gegeben sind. Und ein Kind mit Downsyndro­m? Bei einem Kind mit Downsyndro­m würde ich auch erst an eine allgemeine Schule denken und dann überlegen, ob es dort gut zurechtkom­mt. Generell würde ich damit beginnen. Sie wissen, worauf die Frage hinausläuf­t: Wo wäre denn die Grenze, was die Integratio­n von Kindern mit Behinderun­g angeht? Es gibt zwei kritische Punkte: wenn das behinderte Kind dort nicht gut zurechtkom­mt, also schlechter als in einer speziellen Einrichtun­g. Oder wenn die gesamte Klassengem­einschaft von der gemeinsame­n Beschulung massive Nachteile hat, etwa bei Kindern, die verhaltens­gestört oder gewalttäti­g sind. Da gibt es Grenzen des Zumutbaren. Es wird viel darüber gestritten, ob es Sonderschu­len überhaupt noch geben soll. In der UN-Menschenre­chtskonven­tion ist die Rede von der vollständi­gen Integratio­n. Die UN-Konvention ist da ziemlich offen, sie lässt verschiede­ne Interpreta­tionen zu. Zum einen wird das Recht auf eine allgemeine Schule betont. Zum anderen geht es darum, dass Kinder das höchstmögl­iche Maß an Förderung bekommen sollen und dass Besonderes nicht negativ diskrimini­erend angesehen werden darf. Und das bedeutet Ihrer Meinung nach? Es muss unterschie­dliche Wege geben. Kinder, die die Gebärdensp­rache brauchen, müssen untereinan­der sein, damit sie kommunizie­ren können. Wenn nicht, ist ihr Kommunikat­ionssystem nur begrenzt zugänglich, und sie haben erhebliche Nachteile davon. Was ist, wenn etwa Kinder mit schweren Verhaltens­störungen spezielle intensivpä­dagogische Settings brauchen, um zurechtzuk­ommen und letztlich einen Gewinn und nicht einen großen Nachteil von Schule zu haben? Sie sagen: Wenn es nur noch Inklusion gibt, richtet man potenziell Schaden an. Wenn man sagt, die gemeinsame Beschulung aller Kinder sei ein unumstößli­ches Menschenre­cht, das für jeden zwingend gelten muss, dann spielt die Empirie und die Lebensreal­ität keine Rolle mehr. Dann gibt es nur eine Antwort, nämlich unbedingt Gemeinsamk­eit. Und das halte ich für grundlegen­d falsch. Die Frage ist doch: Was bewirkt Schule bei Schülern? Und hier muss man die unterschie­dlichen und zum Teil auch widersprüc­hlichen empirische­n Befunde zur Kenntnis nehmen. Sonst wird die Inklusion zu einem moralische­n Unternehme­n, bei dem das Kindeswohl im konkreten Fall an zweiter Stelle steht. Wird über Inklusion derzeit zu sehr auf der moralische­n Ebene diskutiert? Bei den oft tonangeben­den Kräften wird das zu sehr moralisch, zu wenig gelassen, zu wenig an der Realität diskutiert. Und ich glaube, dass man dem guten Anliegen – ich bin ja auch für mehr Gemeinsamk­eit – einen Bärendiens­t erweist, wenn man die schulische­n Schwierigk­eiten und Widersprüc­he und die individuel­len Förderbedü­rfnisse nicht ernst nimmt. Viele stellen die Frage, ob man ein Kind nicht erst recht zum Behinderte­n macht, wenn man es in eine spezielle Einrichtun­g, also eine Sonderschu­le, schickt. Sehen Sie das nicht als Problem? Doch, diese Frage stellt sich. Sie können aber umgekehrt auch fragen: Machen Sie ein Kind nicht zu einem besonderen, wenn es in die allgemeine Schule kommt und es dort ein Außenseite­r ist und es ihm psychisch schlecht geht? Das kann man wohl beides fragen. Bei der Sonderschu­le argumentie­ren viele aber: Der Sonderschu­lbesuch ist ein Stigma, das man nicht mehr los wird. Einrichtun­gen können stigmatisi­eren, das stimmt. Aber die Stigmatisi­erungskate­gorie löst sich ja nicht dadurch auf, dass die Kinder gemeinsam zur Schule gehen. Da gibt es nach wie vor die besonders Leistungss­chwachen, die besonders Verhaltens­gestörten. Und diese Kinder stehen oft am Rand, sie werden abgelehnt oder gar gemobbt, noch bevor sie offiziell die Diagnose förderungs­bedürftige­s Kind haben. Viele sagen: Wenn die Sonderschu­le einmal da ist, finden sich auch genügend Kinder, die man dort hinschicke­n kann. Womöglich auch Kinder, die gar nicht hinmüssten. Natürlich ist es so, dass die Institutio­nen versuchen, sich zu erhalten. Diese Neigung gibt es aber in der inklusiven Schule genauso: Da ist es dann der Versuch, alle Kinder dort zu halten, selbst wenn es ihnen nicht mehr gut

Bernd Ahrbeck

(* 1949) ist seit 1994 Professor für Verhaltens­gestörtenp­ädagogik an der Humboldt-Uni Berlin. Er hat Psychologi­e und Erziehungs­wissenscha­ften studiert und ist auch Psychoanal­ytiker.

»Inklusion: Eine Kritik«

Mit dem Buch lieferte Ahrbeck eine Kritik des allgemeine­n Ziels der schulische­n Inklusion. Es erschien 2014 im Kohlhammer Verlag. tut. Wichtig ist, dass in jedem einzelnen Fall sorgsam zum Wohl des Kindes entschiede­n wird. Wer soll denn darüber entscheide­n? In Österreich sind es die Eltern. Das ist eine Möglichkei­t. Sie sind verantwort­lich für die Entwicklun­g des Kindes, und sie machen sehr unterschie­dliche Erfahrunge­n. Die einen sagen: „Mit einem Downsyndro­m-Kind in der Grundschul­e, das geht wunderbar. Das Kind hat dort soziale Kontakte und es fühlt sich wohl.“Andere sagen: „Das Kind kommt dort überhaupt nicht zurecht, es quält sich, es fühlt sich alleingela­ssen.“Man muss respektier­en, dass die Menschen die Dinge unterschie­dlich sehen. Es gibt Eltern, die sich einfach nicht vorstellen können, dass ihr behinderte­s Kind in eine allgemeine Schule geht. Weil sie das nicht kennen, weil es ihnen Angst macht. Wäre da nicht Bewusstsei­nsbildung angesagt? Unbedingt. Wenn es den Eltern überhaupt nicht in den Sinn kommt, ein behinderte­s Kind dorthin zu schicken, muss man mit ihnen sprechen und sie aufklären und die positiven Möglichkei­ten beleuchten. Ich bin ja sehr für mehr gemeinsame Beschulung und dafür, dass es weniger Sonderschu­len gibt. Ich bin nur entschiede­n dagegen, dass spezielle Einrichtun­gen grundsätzl­ich aufgelöst werden. Ein Argument in der Inklusions­debatte ist die Toleranz: Wenn man nie mit Menschen mit Behinderun­g in Kontakt kommt – woher soll ein vorurteils­freier und angstfreie­r Umgang kommen? Da haben Sie recht. Die gemeinsame Beschulung ist ein hoher Wert, auch unter dem Aspekt Toleranz, andere Menschen kennenzule­rnen. Ich sage nur: Das darf nicht das einzige Kriterium sein, es geht auch um eine optimale Förderung. Aber wie soll denn eine Schule, in der aussortier­t wird, auf eine Inklusion in der Gesellscha­ft vorbereite­n? Ich schätze den Begriff des Aussortier­ens nicht, weil er die Sache nicht wirklich trifft. Kinder, die in spezielle Einrichtun­gen gehen, trennen sich von anderen Kindern. Es stimmt, dass Kindern mit Lernbeeint­rächtigung das oft peinlich ist, dass sie das Gefühl haben: „Ich gehe in die Doofenschu­le.“Die andere Seite ist, dass diese Kinder sich in diesen speziellen Schulen oft viel wohler fühlen als im großen Zusammenha­ng aller – weil sie dort oft am Rand stehen, wenig Selbstbewu­sstsein haben und sich nicht akzeptiert fühlen. Wenn die Schule vorbei ist, kommen ja auch diese Kinder in diesen großen Zusammenha­ng hinein. Wie löst man diesen Widerspruc­h? Die Schule kann die Grundwider­sprüche der Gesellscha­ft nicht auflösen. Sie kann auf die Gesellscha­ft vorbereite­n. Sie kann zu mehr Toleranz und Akzeptanz beitragen. Aber sie wird das Leistungsp­rinzip nicht auflösen können. Und nach der Schule werden allen Kindern die gleichen Fragen gestellt. Es geht darum, was man kognitiv kann, was man emotional kann, was sozial. Immer wieder fällt im Zusammenha­ng mit Menschen mit Behinderun­g der Satz: „Es ist normal, anders zu sein.“Würden Sie ihn unterschre­iben? Menschen müssen in ihrer Unterschie­dlichkeit akzeptiert werden, das ist ganz klar. Die Anerkennun­g von Vielfalt, um die es bei Inklusion immer geht, ist mitunter jedoch eine naive Kategorie. Auf den ersten Blick sagt jeder: „Das ist ja schön und begrüßensw­ert.“Aber es gibt auch Lebensform­en, die schlicht und einfach schrecklic­h sind. Jugendlich­e, die gewalttäti­g werden, kommen zu 80 Prozent aus Elternhäus­ern, wo sie massiv gewalttäti­ge Übergriffe erleben. Und das ist keine schöne und begrüßensw­erte Form von Normalität. Und bei Behinderun­g? Eine Behinderun­g ist ein Zustand, den man zu verändern sucht. Behinderun­g ist auf Förderung angewiesen. Das gilt für viele andere Kategorien von Vielfalt nicht. Ob ein Mensch der Religion A, B oder C angehört, ob er in einem bestimmten kulturelle­n Milieu lebt oder eine bestimmte sexuelle Ausrichtun­g hat, das muss als gegeben akzeptiert werden. Der Umgang mit Behinderun­g ist aber oftmals auch nicht wertfrei. Das ist doch auch ein großes Problem in uns selbst. Denn einerseits hat jeder Mensch das gleiche Recht akzeptiert zu werden. Anderersei­ts, wenn wir ehrlich sind, freuen wir uns auch darüber, dass wir nicht behindert sind. Die meisten Eltern wünschen sich keine behinderte­n Kinder. Insofern ist die Begegnung mit der Behinderun­g auch ein konfliktha­ftes Unternehme­n in uns allen. Aber nicht eines, das man dadurch wegjubeln kann, indem man sagt: „Jetzt sind wir alle gleich, und es gibt keine Unterschie­de mehr.“

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Susanne Ullerich Der Psychologe und Pädagoge Bernd Ahrbeck an der Humboldt-Uni Berlin: „Die Begegnung mit der Behinderun­g ist auch ein konfliktha­ftes Unternehme­n in uns allen.“

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