»Man hat verlernt, Nein zu sagen«
Warum die fünf Minuten nach dem Tor die schwierigsten sind und achtzig Prozent einfach nicht reichen. ÖFB-Teamchef Marcel Koller über österreichische Eigenheiten und den Wert von Disziplin.
Herr Koller, wir haben gehört, dass Sie sich für Erziehung interessieren. Ist man denn als Trainer auch Erzieher? Marcel Koller: Bei den ganz jungen Spielern kann das schon eine Rolle spielen. Ich erinnere mich an einen Fall zu Beginn, als ich noch Fußballer war und nebenbei die C-Jugend trainierte. Da gab es einen Jungen, der Talent hatte, aber er hatte schon mit zwölf Jahren Starallüren. Da habe ich natürlich auch erzieherisch eingewirkt und versucht, ihm gewisse Dinge mitzugeben. Nämlich? Das sogenannte Einmaleins. Man hat gemerkt, dass der Junge – es war eine Integrationsfamilie – in der Familie der Chef ist. Die Mama und der Papa und der Bruder waren bei jedem Training dabei, und sie waren schon überzeugt, dass der Junge einmal in der Nationalmannschaft spielen würde. Sie haben ihn gefördert, er konnte alles tun und machen. Da habe ich dann nach dem Training einmal mit dem Papa geredet und ihm gesagt, er müsse ihm Schranken setzen. Und der Vater hat zu mir gesagt: „Kannst nicht du das machen?“Ich hab ihm gesagt, dass das seine Aufgabe sei und ich ja nur zwei-, dreimal pro Woche ein paar Stunden mit ihm zusammen bin. Wie ist es mit dem Buben weitergegangen? Er hat es nicht gepackt, obwohl er, wie gesagt, Talent hatte. Ist Disziplin wichtiger als Talent? Mit Talent allein kommst du heute nicht an die Spitze. Das reicht nicht mehr. Früher schon? Ja, es gab damals die schlampigen Genies. Eine österreichische Spezialität . . . Die schlampigen Genies gab es auch in Deutschland und in der Schweiz. Sie waren von der Technik her top, aber keine großen Läufer. Dafür hatten sie ihre Handlanger, die sozusagen die Drecksarbeit gemacht haben. Aber so läuft das heute nicht mehr. Noch einmal zurück zu dem Vater: Hat er erklärt, warum er den Jungen nicht selbst erziehen konnte? Er hatte irgendwie nicht die Persönlichkeit, der Junge war schon stärker als er. Der Vater hat die Verantwortung an Sie abgeschoben. Glauben Sie, dass es heutzutage öfter vorkommt, dass Eltern das Erziehen delegieren – an Trainer, Lehrer usw.? Ja, das ist eben bequem. Ich finde, die Lehrer haben schon genug zu tun, den Lehrstoff zu vermitteln. Wenn sie noch erziehen müssen, wird es schwierig. Welche Erziehungsmängel fallen Ihnen besonders auf? Dass man heutzutage gar nichts mehr mehr bemängeln oder kritisieren will. Man lobt nur. Und sagt nicht: „Nein, das darfst du nicht.“Wenn wir an der Kassa im Supermarkt stehen, wo ja auch die Süßigkeiten sind, habe ich oft erlebt, wie die Kinder zu fordern und zu schreien beginnen und die Eltern meistens nachgeben. Man hat verlernt, Nein zu sagen. Ein Nein wird auch nicht mehr akzeptiert. Wenn ein Elternteil Nein sagt, glauben die Kinder: Irgendwie kriegen wir ihn schon herum. Wie ist es denn bei Ihnen zu Hause? Ist ein Nein ein Nein? Ja. Ist die Konsequenz Teil Ihrer Persönlichkeit, oder ist das Ihr Schweizer Erbe? Ich hatte in meiner Karriere viele Verletzungen und bin auch öfter operiert worden. Wenn man dann wieder zurückkommt, muss man sich wieder durchsetzen. Gerade der Physiotherapeut baut dich vielleicht noch auf, aber sonst niemand. Zurückzukommen war allein mein Wille. Durch den Sport bin ich im Kopf härter und klarer geworden. Wenn du das Training einmal weglässt, nur weil du keine Lust hast, dann kommst du nicht mehr zurück. Du musst einen Ehrgeiz entwickeln, der nützlich ist, um erfolgreich sein zu können. Fehlt Ihnen diese Zielstrebigkeit in Österreich? In einem Interview mit der Schweizer „Weltwoche“haben Sie ja gesagt: „Der Österreicher ist schnell zufrieden.“Sätze wie „Passt scho’“oder „Schau ma mal“würde man hier sehr oft hören. Wenn ich mir die erfolgreichen Skifahrer ansehe, dann stimmt das so pauschal natürlich nicht. Mir ist aber zu Beginn der Zusammenarbeit mit dem Team aufgefallen, dass den Spielern 80 Prozent gereicht haben. Aber wenn du nur 80 Prozent gibst, kann es sein, dass du in der 90. oder 92. Minute ein Tor bekommst. Bei meinem ersten Spiel als Trainer der Nationalmannschaft in der Ukraine 2011 hat das Team gut gespielt, es war besser als das gegnerische. Sie waren 1:0 im Rückstand, schossen dann das 1:1, und in der 92. Minute bekamen sie dann doch noch ein Tor. Da habe ich gesagt: „Daran müssen wir arbeiten.“Das Lockere kann ich nicht brauchen. „Passt scho“kannst du sagen, wenn du das Ziel erreicht hast. In Österreich ist das ganze Land ein bisschen „Passt scho“. Wie haben Sie ein anderes heimisches Klischee, das Raunzen, erlebt? Anfangs wusste ich gar nicht, was das ist, das Raunzen. Bei meiner Bestellung als Nationaltrainer war es jedenfalls richtig laut. Ich war damals zweieinhalb Monate im Interconti untergebracht und bin auf der Straße sehr oft angesprochen worden: darauf, dass der ÖFB dies oder das falsch mache, dass man Fußball so nicht spielen dürfe und so weiter. Ich habe mir das alles interessiert angehört. Ich bin ja ein positiver Mensch. Nach einem Jahr hatte ich mit einer Journalistin ein Interview, und