Die Presse am Sonntag

»Man hat verlernt, Nein zu sagen«

Warum die fünf Minuten nach dem Tor die schwierigs­ten sind und achtzig Prozent einfach nicht reichen. ÖFB-Teamchef Marcel Koller über österreich­ische Eigenheite­n und den Wert von Disziplin.

- VON ULRIKE WEISER, RAINER NOWAK UND CHRISTIAN ULTSCH

Herr Koller, wir haben gehört, dass Sie sich für Erziehung interessie­ren. Ist man denn als Trainer auch Erzieher? Marcel Koller: Bei den ganz jungen Spielern kann das schon eine Rolle spielen. Ich erinnere mich an einen Fall zu Beginn, als ich noch Fußballer war und nebenbei die C-Jugend trainierte. Da gab es einen Jungen, der Talent hatte, aber er hatte schon mit zwölf Jahren Starallüre­n. Da habe ich natürlich auch erzieheris­ch eingewirkt und versucht, ihm gewisse Dinge mitzugeben. Nämlich? Das sogenannte Einmaleins. Man hat gemerkt, dass der Junge – es war eine Integratio­nsfamilie – in der Familie der Chef ist. Die Mama und der Papa und der Bruder waren bei jedem Training dabei, und sie waren schon überzeugt, dass der Junge einmal in der Nationalma­nnschaft spielen würde. Sie haben ihn gefördert, er konnte alles tun und machen. Da habe ich dann nach dem Training einmal mit dem Papa geredet und ihm gesagt, er müsse ihm Schranken setzen. Und der Vater hat zu mir gesagt: „Kannst nicht du das machen?“Ich hab ihm gesagt, dass das seine Aufgabe sei und ich ja nur zwei-, dreimal pro Woche ein paar Stunden mit ihm zusammen bin. Wie ist es mit dem Buben weitergega­ngen? Er hat es nicht gepackt, obwohl er, wie gesagt, Talent hatte. Ist Disziplin wichtiger als Talent? Mit Talent allein kommst du heute nicht an die Spitze. Das reicht nicht mehr. Früher schon? Ja, es gab damals die schlampige­n Genies. Eine österreich­ische Spezialitä­t . . . Die schlampige­n Genies gab es auch in Deutschlan­d und in der Schweiz. Sie waren von der Technik her top, aber keine großen Läufer. Dafür hatten sie ihre Handlanger, die sozusagen die Drecksarbe­it gemacht haben. Aber so läuft das heute nicht mehr. Noch einmal zurück zu dem Vater: Hat er erklärt, warum er den Jungen nicht selbst erziehen konnte? Er hatte irgendwie nicht die Persönlich­keit, der Junge war schon stärker als er. Der Vater hat die Verantwort­ung an Sie abgeschobe­n. Glauben Sie, dass es heutzutage öfter vorkommt, dass Eltern das Erziehen delegieren – an Trainer, Lehrer usw.? Ja, das ist eben bequem. Ich finde, die Lehrer haben schon genug zu tun, den Lehrstoff zu vermitteln. Wenn sie noch erziehen müssen, wird es schwierig. Welche Erziehungs­mängel fallen Ihnen besonders auf? Dass man heutzutage gar nichts mehr mehr bemängeln oder kritisiere­n will. Man lobt nur. Und sagt nicht: „Nein, das darfst du nicht.“Wenn wir an der Kassa im Supermarkt stehen, wo ja auch die Süßigkeite­n sind, habe ich oft erlebt, wie die Kinder zu fordern und zu schreien beginnen und die Eltern meistens nachgeben. Man hat verlernt, Nein zu sagen. Ein Nein wird auch nicht mehr akzeptiert. Wenn ein Elternteil Nein sagt, glauben die Kinder: Irgendwie kriegen wir ihn schon herum. Wie ist es denn bei Ihnen zu Hause? Ist ein Nein ein Nein? Ja. Ist die Konsequenz Teil Ihrer Persönlich­keit, oder ist das Ihr Schweizer Erbe? Ich hatte in meiner Karriere viele Verletzung­en und bin auch öfter operiert worden. Wenn man dann wieder zurückkomm­t, muss man sich wieder durchsetze­n. Gerade der Physiother­apeut baut dich vielleicht noch auf, aber sonst niemand. Zurückzuko­mmen war allein mein Wille. Durch den Sport bin ich im Kopf härter und klarer geworden. Wenn du das Training einmal weglässt, nur weil du keine Lust hast, dann kommst du nicht mehr zurück. Du musst einen Ehrgeiz entwickeln, der nützlich ist, um erfolgreic­h sein zu können. Fehlt Ihnen diese Zielstrebi­gkeit in Österreich? In einem Interview mit der Schweizer „Weltwoche“haben Sie ja gesagt: „Der Österreich­er ist schnell zufrieden.“Sätze wie „Passt scho’“oder „Schau ma mal“würde man hier sehr oft hören. Wenn ich mir die erfolgreic­hen Skifahrer ansehe, dann stimmt das so pauschal natürlich nicht. Mir ist aber zu Beginn der Zusammenar­beit mit dem Team aufgefalle­n, dass den Spielern 80 Prozent gereicht haben. Aber wenn du nur 80 Prozent gibst, kann es sein, dass du in der 90. oder 92. Minute ein Tor bekommst. Bei meinem ersten Spiel als Trainer der Nationalma­nnschaft in der Ukraine 2011 hat das Team gut gespielt, es war besser als das gegnerisch­e. Sie waren 1:0 im Rückstand, schossen dann das 1:1, und in der 92. Minute bekamen sie dann doch noch ein Tor. Da habe ich gesagt: „Daran müssen wir arbeiten.“Das Lockere kann ich nicht brauchen. „Passt scho“kannst du sagen, wenn du das Ziel erreicht hast. In Österreich ist das ganze Land ein bisschen „Passt scho“. Wie haben Sie ein anderes heimisches Klischee, das Raunzen, erlebt? Anfangs wusste ich gar nicht, was das ist, das Raunzen. Bei meiner Bestellung als Nationaltr­ainer war es jedenfalls richtig laut. Ich war damals zweieinhal­b Monate im Interconti untergebra­cht und bin auf der Straße sehr oft angesproch­en worden: darauf, dass der ÖFB dies oder das falsch mache, dass man Fußball so nicht spielen dürfe und so weiter. Ich habe mir das alles interessie­rt angehört. Ich bin ja ein positiver Mensch. Nach einem Jahr hatte ich mit einer Journalist­in ein Interview, und

 ?? Clemens Fabry ?? „Wer beim Teamfrühst­ück aufs Handy schaut, zahlt Bußgeld“, sagt Marcel Koller.
Clemens Fabry „Wer beim Teamfrühst­ück aufs Handy schaut, zahlt Bußgeld“, sagt Marcel Koller.

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