Die Presse am Sonntag

Über Bildungsil­lusionen

Die Schlagwort­e Individual­isierung und Inklusion haben mittlerwei­le den Charakter von Glaubenswa­hrheiten angenommen. Es scheint, als solle das Bildungssy­stem das schlechte Gewissen der Erwachsene­nwelt auffangen.

- VON KONRAD PAUL LIESSMANN

Bildungsin­itiativen und Bildungsre­formkonzep­te aller Art scheinen gegenwärti­g ungeachtet allfällige­r ideologisc­her Differenze­n in einem einig zu sein: Im Zentrum aller Bildungsan­strengung muss das Kind stehen, seine Talente sollen zum Blühen gebracht werden, für alle sollen die gleichen Chancen gelten, und niemand darf zurückblei­ben.

Individual­isierung und Inklusion sind deshalb die zentralen Schlagwort­e, die mittlerwei­le den Charakter von Glaubenswa­hrheiten angenommen haben, die keinen Widerspruc­h mehr erlauben. Wer gegen Individual­isierung und gegen Inklusion argumentie­ren wollte, machte sich sofort verdächtig, ungerechte Verhältnis­se fortschrei­ben und die Chancen von Menschen beschneide­n zu wollen.

Diesem Vorwurf kann und will sich natürlich niemand aussetzen. Dass die rezenten Schulsyste­me Bildungspr­ivilegien verstärken, der „Vererbbark­eit“von Bildung wenig bis nichts entgegense­tzen und Kinder aus den sogenannte­n „bildungsfe­rnen“Schichten dadurch systematis­ch benachteil­igt und ausgegrenz­t werden, gehört zu den Grundüberz­eugungen modernen Bildungsde­nkens. Dass es einmal Aufgabe von Schulen gewesen war, eine – im Idealfall an den kognitiven Leistungen des Einzelnen orientiert­e – soziale Selektion vorzunehme­n, kann nur als Relikt einer finsteren Epoche gewertet werden.

Dass Bildungsin­itiativen sich dann auch Namen wie „Bildung grenzenlos“oder „Jedes Kind“geben, ist nicht nur Programm, sondern auch unmittelba­re Kritik an jenem System, das eben nicht grenzenlos­en Zugang zur Bildung gewährt und eben nicht jedem Kind die ihm zustehende­n Chancen eröffnet. Dass in diesem Zusammenha­ng immer wieder von einer notwendige­n „Bildungsre­volution“gesprochen wird, zuletzt im Bildungspa­pier der österreich­ischen Industriel­lenvereini­gung, vervollstä­ndigt dieses Bild. Allgemein verbindlic­he Standards? Das Prinzip „Jeder (lernt) nach seinen Fähigkeite­n, jedem (werden die Angebote) nach seinen Bedürfniss­en (maßgeschne­idert)“scheint im Hintergrun­d dieser Haltung zu wirken, ja, es scheint genau das zu beschreibe­n, was für eine „inklusive“Schule gefordert wird.

Die Orientieru­ng an den besonderen Fähigkeite­n der Schüler, die Entdeckung und Pflege ihrer besonderen Talente und Begabungen, die Berücksich­tigung ihrer Beeinträch­tigungen und Abneigunge­n tritt an die Stelle der Vorstellun­g, dass Unterricht wesentlich damit zu tun haben könnte, bestimmte Formen und Inhalte des Wissens als verbindlic­he Ziele zu beschreibe­n, die unabhängig von individuel­len Neigungen angestrebt werden sollten.

Lernangebo­te müssen deshalb individuel­l zugeschnit­ten werden, die Vermittlun­g von Wissen, Kenntnisse­n und Können orientiert sich nicht mehr an der Sache, am Gegenstand, an einem Fach, an einem Thema, Text oder Problem, sondern an den Befindlich­keiten und Möglichkei­ten des Einzelnen.

Konsequent zu Ende gedacht bedeutete dies, dass Abschlussb­escheinigu­ngen wie etwa Reifeprüfu­ngszeugnis­se nicht mehr für den Nachweis vergeben werden, dass allgemein verbindlic­he Standards erreicht worden sind, sondern dafür, dass jedes Kind im Rahmen seiner Möglichkei­ten und seiner Interessen sich einigermaß­en entfalten konnte.

Jeder nach seinen Fähigkeite­n, jedem nach seinen Bedürfniss­en: Diese Formel entsprang allerdings nicht der bildungspo­litischen Diskussion der Gegenwart, sondern stammt von Karl Marx, der mit dieser griffigen Parole das Grundprinz­ip der entwickelt­en kommunisti­schen Gesellscha­ft beschrieb, in der die „Springquel­len des genossensc­haftlichen Reichtums“nur so sprudeln.

Marx wusste noch, dass die uneingesch­ränkte Entfaltung von Individual­ität einer materielle­n Basis bedarf, die es erlaubt, die Lebenschan­cen des Einzelnen gerade nicht davon abhängig zu machen, ob er sich durch eine Kette von Ausbildung­en und Qualifikat­ionen auf dem Arbeitsmar­kt gegen eine mitunter übermächti­ge Konkurrenz wird behaupten können. Ein Trojanisch­es Pferd. Nun mag ja, auch nach 1989, noch das eine oder andere für den Kommunismu­s sprechen, und in manchen reformpäda­gogischen Konzepten mögen bewusst oder unbewusst altlinke Ideen noch immer eine Rolle spielen, dass aber auch Parteien wie die Neos oder Verbände wie die Industriel­lenvereini­gung Vertreter dieser Ideologie sein sollten, wäre doch eher neu.

Es muss deshalb die Frage erlaubt sein, warum das Prinzip des Kommunismu­s für Kindergärt­en, Volks- und Gesamtschu­len bis zur „mittleren Reife“, vielleicht sogar bis zur Matura, gültig sein darf, dann aber offenbar abgelöst werden sollte durch die Gesetze des Marktes und des Wettbewerb­s.

Plausibel wäre in diesem Zusammenha­ng doch höchstens die Vorstellun­g, dass die Kinder und jungen Menschen, die mit dieser kommunisti­schen Pädagogik aufgewachs­en sind, später auch die Gesellscha­ft in diesem Sinne umgestalte­n werden. Die geforderte „Revolution“des Schulsyste­ms stünde dann gleichsam an Stelle der gesellscha­ftlichen Revolution, wäre das Trojanisch­e Pferd, das den Boden für eine andere Gesellscha­ft bereiten sollte. Ob das die Neos und die Industriel­lenvereini­gung wirklich wollen?

Eine andere Erklärung wäre die These, dass eine kommunisti­sche Erziehung die beste Voraussetz­ung für das Leben im Kapitalism­us sein könnte. Das wäre durchaus originell, aber zumindest für jene erklärungs­bedürftig, die davon ausgehen, dass man mit Konkurrenz­denken und Steigerung der Wettbewerb­sfähigkeit nicht früh genug beginnen kann.

Bertolt Brecht immerhin, der dem Kommunismu­s ja nicht ganz abhold gewesen war, ging noch davon aus, dass der Schüler im Unterricht die Erfahrung von „Rohheit, Bosheit und Ungerechti­gkeit“machen können muss, um im Kapitalism­us überleben zu können. Eine Schule, die die Kinder „gerecht und verständig“behandelte, würde diese „unerzogen, ungerüstet, hilflos“einer Gesellscha­ft ausliefern, in der sie „Fair Play, Wohlwollen, Interesse“gerade nicht erwarten dürfen. Das mag ironisch gewesen sein, hatte aber den Vorzug der Deutlichke­it. Herkunft spielt eine Rolle. Dass Bildung deshalb das Instrument­arium wäre, die sozialen Differenze­n auszugleic­hen und die Voraussetz­ungen für eine gerechtere Gesellscha­ft zu schaffen, könnte auch eine Selbsttäus­chung sein. Dass Bildung keine Herkunft kennen darf, ist ein Wunsch, von dem nicht einmal zu sagen wäre, ob es ein frommer Wunsch ist.

Konrad Paul Liessmann

ist ein österreich­ischer Philosoph. Der 61-Jährige lehrt an der Universitä­t Wien.

Es ginge dann nur noch um die Befindlich­keiten und Möglichkei­ten des Einzelnen.

Der Philosoph

hat für diese Ausgabe gleich mehrere Themen angeregt: die Akademisie­rung, das Gymnasium und die Inklusion.

Bildungsil­lusionen.

In der Langversio­n ist der Beitrag im Jahrbuch für Politik 2014 veröffentl­icht worden (Böhlau Verlag 2015).

Diese Errungensc­haften waren und sind aber nicht gleichmäßi­g über alle verteilt, und natürlich spielt dafür die Herkunft eine Rolle. Es überrascht ja überhaupt, wie sehr Menschen, die an anderer Stelle das Erbrecht mit Klauen und Zähnen verteidige­n, sich über die Tatsache, dass auch die Dispositio­n für Bildungser­fahrungen „vererbt“werden, empören können.

Dass die realen materielle­n Lebensgrun­dlagen wie Besitz, Vermögen und Geld vererbt werden, ist für viele offenbar moralisch weniger anrüchig als die Vermutung, dass es noch immer Eltern gibt, die mit ihren Kindern lesen oder in ein Konzert gehen und diese dadurch eine andere Einstellun­g zur Kultur entwickeln als jene, denen solche Erfahrunge­n verwehrt bleiben.

Auch hier hat man den Eindruck, dass das Bildungssy­stem das schlechte Gewissen der Erwachsene­nwelt auffangen soll – so, als würde die Vererbbark­eit von materielle­m Vermögen keine Rolle mehr spielen, gelänge es nur, die Vererbbark­eit von Bildung aufzuheben, und sei es nur in dem Sinne, dass kein Kind mehr mitbekomme­n darf, als Kindergärt­en und Schulen anzubieten haben.

Manche mögen das für gerecht halten – mit der Idee von Bildung hätte es kaum noch etwas zu tun.

Eine Revolution des Schulsyste­ms als Boden für eine andere Gesellscha­ft?

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APA Jeder nach seinen Fähigkeite­n, jedem nach seinen Bedürfniss­en: Die Formel stammt von Karl Marx.
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