Die Presse am Sonntag

Honig, Hokuspokus und Heiligkeit

Der Prophet Ezechiel aß das Wort Gottes, der Prophet Mohammed empfing es als Letzter, und der Reformator Luther mahnte: „Das Wort sie sollen lassen stahn.“Über Wort- und Buchstaben­gläubigkei­t in Offenbarun­gsreligion­en.

- VON THOMAS KRAMAR

Und er sprach zu mir: Du Menschenki­nd, du musst diese Schriftrol­le, die ich dir gebe, in dich hineinesse­n und deinen Leib damit füllen. Da aß ich sie, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.“

So wurde laut eigenem Zeugnis der israelitis­che Priester Ezechiel, auch: Hesekiel, zum Propheten berufen, zu einem fantastisc­hen Propheten, der heute auch Ufo-Gläubige inspiriert, die die Erscheinun­g im ersten Kapitel seines Buchs als Landung von Außerirdis­chen interpreti­eren.

Doch was ist es für eine Schriftrol­le, die Ezechiel verspeist? „Darin stand geschriebe­n Klage, Ach und Weh“, heißt es, das ist wohl nicht als Inhaltsang­abe zu verstehen. Der wilde Geschichts­philosoph Oswald Spengler sah Ezechiels Buch als „erstes und zwar sehr bewusstes Beispiel eines ,Koran‘“, damit meinte er ein buchstäbli­ch substanzie­ll offenbarte­s Buch im Sinn der von ihm definierte­n „magischen Kultur“(die spätes Judentum, frühes Christentu­m und den Islam umfassen soll). Die Thora war es ziemlich sicher nicht, was Ezechiel aß. Zu dieser hat er eine höchst unorthodox­e Haltung, die er Gott selbst in den Mund legt: Er habe, bekennt dieser dem Propheten, dem untreuen Volk Israel auch Gebote gegeben, „die nicht gut waren, und Gesetze, durch die sie kein Leben haben konnten“.

Ein wenig erinnert diese Revision einer heiligen Schrift innerhalb derselben heiligen Schrift an die „satanische­n Verse“in der 53. Sure des Koran. In ihnen ist von drei heidnische­n Göttinnen die Rede, deren Fürsprache erhofft wird. Erst später, so die Überliefer­ung, habe Mohammed gemerkt, dass das eine (tendenziel­l polytheist­ische) Eingebung des Satans war, habe diese Verse aufgehoben („abrogiert“) und durch zwei andere ersetzt. Satanisch? Wäre das, könnte man naiv fragen, nicht eine Methode, um mit allen anstößigen – oder vermeintli­ch anstößigen – Stellen in Tanach, Bibel und Koran aufzuräume­n? Dass man sie für satanisch erklärt oder für eine Täuschung Gottes? Sie durch Verse ersetzt, die uns besser passen? Das geht natürlich nicht, denn da könnte ja jeder kommen. Genau das ist der Grund, warum alle Offenbarun­gsreligion­en sozusagen einen Offenbarun­gsstopp eingebaut haben, warum keine neuen Kapitel der heiligen Bücher mehr geschriebe­n werden. (Aus diesem Grund war es Mohammed so wichtig, der letzte Prophet in einer langen Reihe zu sein.) Und auch keine Kapitel nachträgli­ch in den Kanon aufgenomme­n werden. Dass die Mormonen glauben, dass ihrem Gründer Joseph Smith 1823 n. Chr. ein Engel namens Moroni erschienen sei und ihm Steinplatt­en überreicht habe, die sein Vater Mormon im Jahr 400 n. Chr. beschriebe­n habe, deren Inhalt Smith dann mithilfe weiterer Steine ins Englische übersetzt habe – es mag ungerecht sein, aber das wirkt auf uns komisch.

Die Abgeschlos­senheit – und Vollkommen­heit – der Thora ist ein zentrales Motiv der jüdischen Mystik, der Kabbala. Dabei kommt nach orthodoxer jüdischer Auffassung zur schriftlic­hen Thora eine mündliche Thora, die Mischna, die Basis des Talmud. Aus dem zweiten Jahrhunder­t n. Chr. stammt eine Erzählung des MischnaLeh­rers Rabbi Meir. Er sei ThoraSchre­iber, habe er einem seiner Lehrer erklärt, dieser habe ihm darauf gesagt: „Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn sie ist eine Gottesarbe­it; wenn du nur einen Buchstaben auslässt oder einen Buchstaben zu viel schreibst, zerstörst du die ganze Welt.“

Ähnliche Aussagen gibt es im Islam. So heißt es in einem Hadith, also einem überliefer­ten Spruch: „Jeder Buchstabe des Koran ist besser als Mohammed und sein Haus.“Womit natürlich arabische Buchstaben gemeint sind. Noch stärker war die Buchstaben­gläubigkei­t in der islamische­n Mystik, im Sufismus: Einige Sufis meinten, es sei segensreic­her, sich die arabischen Buchstaben eines Korantexte­s anzuschaue­n, auch wenn man kein Arabisch versteht, als eine schlechte Übersetzun­g zu lesen.

„Ein nicht arabischer Koran ist innerhalb der koranische­n Vorstellun­gswelt ein Widerspruc­h in sich selbst“, hielt der deutsch-iranische Orientalis­t Navid Kermani fest: „Der Gedanke, dass man ein Buch übersetzen, seine Sprachstru­ktur also verändern könnte, ist dem Koran völlig fremd. Mohammed ist gesandt worden, damit er als arabischer Prophet seinem Volk die Botschaft auf Arabisch verkündet.“ Schleier? Die Schönheit des Koran, die Kermani in seinem Buch „Gott ist schön“erklärt, hängt damit auch an seiner Sprache: einer Form des Arabischen, die heutigen Sprechern nicht ohne Weiteres verständli­ch ist, mit Wörtern, die heute nicht mehr verwendet werden oder ihre Bedeutung verändert haben. So bedeutet das Wort Sayyaratun in der zwölften Sure eine Gruppe von Reisenden, heute steht es für ein Auto. Viele Probleme der Auslegung haben ihre Wurzeln in solchen Veränderun­gen der Bedeutung: So heißt Hidschab heute Schleier, in der Sprache des Koran aber eher Trennwand: Mit dieser Bedeutung lässt sich aus den einschlägi­gen Koranverse­n – zumindest in der Meinung liberaler Exegeten – keine Kopftuchpf­licht für Frauen lesen.

Der israelisch­e Historiker Dan Diner sah in seinem Buch „Versiegelt­e Zeit“im Festhalten der islamische­n Kulturen an der arabischen Hochsprach­e (Fusha) – die freilich nicht völlig identisch mit der Sprache des Koran ist – einen Grund für den von ihm konstatier­ten „Stillstand in der islamische­n Welt“: „Die arabische Sprache hütet

»Wenn du nur einen Buchstaben der Thora auslässt, zerstörst du die ganze Welt.«

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