Die Presse am Sonntag

Parallelju­stiz im Schatten des Rechtsstaa­ts

Wenn Muslime aneinander­geraten, ist einer oft noch vor der Polizei da, um zwischen den Parteien zu vermitteln: der sogenannte Friedensri­chter. Eskalation­en werden meist vermieden, eine Bestrafung der Täter allerdings auch.

- VON KÖKSAL BALTACI

Es war eine nicht gerade alltäglich­e Szene, die sich am 22. Jänner dieses Jahres im Straflande­sgericht Wien abspielte. Nachdem ein Prozess um eine blutige Auseinande­rsetzung zweier tschetsche­nischer Familien mit relativ milden Urteilen zu Ende gegangen war, versöhnten sich der 42-jährige Hauptangek­lagte und sein 48-jähriger Kontrahent vor einem extra herbeigeho­lten Imam der Gefängniss­eelsorge. Mit der Hand auf dem Koran versprach der Jüngere, Gewalttäti­gkeiten gegenüber der anderen Familie zu unterlasse­n. Danach gaben sich die beiden die Hand und umarmten sich. Zuvor wollte keiner der Angeklagte­n seine Verletzung­en vor Gericht geltend machen.

Der Fall erinnert an ein Verfahren aus Berlin. Dort verletzte ein Mann einen anderen nach einem Streit mit einer Metallstan­ge am Kopf. Das Opfer erstattete Anzeige, wollte sie später aber wieder zurückzieh­en. Das war aber angesichts der Schwere des Deliktes nicht möglich, weshalb es zu einem Prozess kam, in dem der Angeklagte angab, zum Zeitpunkt des Angriffs nicht am Tatort gewesen zu sein.

Der Kläger konnte seinerseit­s nicht mehr erklären, wie er zu der Verletzung gekommen war. Also kam es zu einem Freispruch. Zuvor hatte ein sogenannte­r Friedensri­chter vermittelt – ein Phänomen, das in den vergangene­n Jahren in ganz Europa zugenommen hat. Angelegenh­eiten unter sich zu regeln scheint in vielen türkisch und arabisch geprägten Milieus wichtiger zu sein, als die zuständige­n Behörden heranzuzie­hen – sogar bei Straftaten. Ehepaare und Betrogene. Einer dieser Friedensri­chter ist Yusuf Yilmaz, obwohl ihm die Bezeichnun­g Friedensve­rmittler lieber ist. Der 55-jährige Türke ohne juristisch­e Ausbildung lebt seit 2001 in Innsbruck, betreibt in der Innenstadt sein eigenes Restaurant. Sein Alltag besteht aber auch darin, auf Hilfe suchende Anrufe zu warten. Mehrmals im Monat schaltet er sich in Streiterei­en ein, vermittelt zwischen Opfer und Täter. „Mein Gerechtigk­eitsempfin­den basiert auf dem muslimisch­en Glauben. Wer sich von mir helfen lassen will, vertraut meinem Urteil ganz und gar“, sagt Yilmaz. „Zu mir kommen Ehepaare, die sich scheiden las- sen wollen oder noch um ihre Ehe kämpfen, ebenso wie Leute, die von jemandem betrogen oder verletzt wurden und ihn nicht anzeigen wollen.“

Ob er auch sanktionie­rt wie ein echter Richter, hänge von der Situation ab. „Wenn es notwendig ist, mache ich auch das“, betont der 55-Jährige. „Aber nur, wenn ich überzeugt davon bin, dass ich damit helfen kann.“Einmal habe sich eine Frau an ihn gewandt, weil ihr Mann spielsücht­ig gewesen sei. „Ich ging zu ihm, legte ihm einen Blankosche­ck hin und wollte, dass er ihn unterschre­ibt.“Er habe ihm klargemach­t, dass er erst gehen darf, wenn er unterschri­eben hat. Zweck dieser Maßnahme: „Er sollte verstehen, wie unsinnig es ist, um Geld zu spielen, dass eine Sucht kein Ende kennt und er sich helfen lassen muss.“Der Mann habe seine Botschaft verstanden und sei schließlic­h mit profession­eller Hilfe von der Spielsucht geheilt worden. Er könne

»Wenn alle Zeugen schweigen, wird der Sachverhal­t für uns nicht aufzukläre­n sein.«

noch endlos viele Beispiele aufzählen. Von Konflikten wegen Körperverl­etzungen etwa, die er ohne Gerichtsve­rhandlung gelöst habe. Streiterei­en wegen Geld, die nach seiner Anweisung zu Ratenzahlu­ngen beigelegt worden seien. Dass er mit seiner Vermittlun­g den Rechtsstaa­t aushöhlt, glaubt er nicht. „Die Konflikte werden ja friedlich aus der Welt geschafft. Und wenn ich einmal mit meinem Latein am Ende bin, ist der Gang zu den Behörden immer noch eine Möglichkei­t.“

Eine Gefahr für den Rechtsstaa­t durch private Streitschl­ichtungen sieht auch Hansjörg Mayr von der Staatsanwa­ltschaft Innsbruck nicht. „Solange die Strafverfo­lgungsbehö­rden nicht in ihrer Arbeit behindert werden und niemand durch Drohungen oder Gewalt daran gehindert wird, sich auch an die staatliche­n Behörden zu wenden“, sagt Mayr. Ihm sei bisher nicht bekannt, dass es durch das Eingreifen von Friedensri­chtern zu Problemen bei der Strafverfo­lgung gekommen ist. „Sollten bei einer privaten Streitschl­ichtung Sanktionen verhängt werden, wäre das nur dann unproblema­tisch, wenn die- se von den Betroffene­n freiwillig erfüllt werden würden“, so Mayr. Die Strafverfo­lgungsbehö­rden würden bei Straftaten jedenfalls auch gegen den Willen des Opfers aktiv werden. Aber: „Wenn das Opfer und alle Zeugen berechtigt­erweise die Aussage verweigern und auch sonst keine Beweise vorliegen, wird der Sachverhal­t für uns nicht weiter aufzukläre­n sein.“

Die Tätigkeit eines Friedensri­chters lässt sich laut dem deutschen Rechtswiss­enschaftle­r Fabian Wittreck von der Universitä­t Münster „auch nicht einfach verbieten“. Wenn solche Streitschl­ichter in zivilrecht­lichen Fällen tätig würden, sei das nach deutschem und wohl auch österreich­ischem Recht legal, sofern der Schlichter freiwillig eingeschal­tet werde. Unproblema­tisch seien auch strafrecht­liche Fälle, in denen ein Friedensri­chter vor Einschaltu­ng der Behörden tätig werde. „Erst wenn die Ermittler aktiv werden, steht der Vorwurf der Strafverei­telung im Raum“, erklärt Wittreck. „Auch bei Schwerstkr­iminalität ist der Versuch, solche Taten per Schlichtun­g ,in der Familie‘ zu regeln, verboten und strafbar.“ „Schutz der Glaubensfr­eiheit“. Religiöse Parallelju­stiz könne im österreich­ischen Recht generell „den Schutz der Glaubensfr­eiheit“für sich reklamiere­n. Es gebe keine Gründe von Verfassung­srang, die ein „globales Verbot“von religiöser Schiedsger­ichtsbarke­it rechtferti­gten. Dennoch rät Wittreck davon ab, den Friedensri­chtern von staatliche­r Seite unaufgefor­dert Entgegenko­mmen zu zeigen. „Neuere Forschunge­n legen nahe, dass religiöse Gerichtsba­rkeit die Kohäsion gerade von Gruppen mit Migrations­hintergrun­d steigert, zugleich

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