Die Presse am Sonntag

»Für Muslime gibt es nur einen Islam«

Islamische­s Leben im Europa des 21. Jahrhunder­ts müsse anders aussehen als im 7. Jahrhunder­t in Arabien, sagt Benjamin Idriz, der Imam der Moschee im bayerische­n Penzberg. Den Begriff des Euro-Islam sieht er dennoch kritisch.

- VON ERICH KOCINA

Beim Begriff Euro-Islam oder aufgeklärt­em Islam schwingt immer mit, dass der Islam dazu säkularisi­ert werden muss. Teilen Sie diesen Befund? Benjamin Idriz: Euro-Islam ist ein umstritten­er Begriff, nicht nur innerhalb der muslimisch­en Gemeinde, auch in der Wissenscha­ft. Für Muslime gibt es nur einen Islam, das muss man nicht durch Adjektive qualifizie­ren. Alles andere als der normale Islam ist das, was Salafisten, Extremiste­n oder Terroriste­n daraus machen. Der Islam in Europa wird aber schon anders gelebt als etwa im arabischen Raum. Islamische­s Leben im Europa des 21. Jahrhunder­ts muss anders aussehen als im 7. Jahrhunder­t in Arabien. Wenn Muslime Vorstellun­gen wie zum Beispiel die rechtliche Ungleichhe­it von Mann und Frau vertreten, widerspric­ht das diametral der Intention und dem Geist von Koran und Sunna bezogen auf unsere Zeit und Kultur. Sie haben gefordert, dass sich Muslime von den Ausrichtun­gen ihrer alten Heimatländ­er lösen. Wie weit muss das gehen? Damit meine ich organisato­rische Verbindung­en. In den vergangene­n 50 Jahren waren die Muslime abhängig von ihren Heimatländ­ern. Das war auch berechtigt – die Muslime brauchten anfangs Hilfe aus dem Ausland. Aber die neue Generation der Muslime, die hier aufgewachs­en ist, muss sich von diesen Ländern organisato­risch befreien und hier auf eigenen Beinen stehen. Also sind Organisati­onen wie Atib in Österreich nicht wünschensw­ert? Die sind ja sogar hier gegründet worden. Aber die Türkei hat über sie Imame geschickt und somit einen großen Beitrag für die religiöse Betreuung geleistet. Dafür sollten Österreich und Deutschlan­d dankbar sein. Heute aber suchen junge türkischst­ämmige Muslime Imame, die in ihrer Sprache predigen – also Deutsch. Und die ihre Weltanscha­uung verstehen. Es ist klar, dass sie von hier kommen müssen. Eine oft gestellte Forderung ist Deutsch als Verkehrssp­rache im muslimisch­en Leben. Wie ist das vereinbar damit, dass der Koran nur auf Arabisch als echt gilt? Der Koran ist Gottes Wort und für die Kunst der Rezitation kann nur der originale Wortlaut infrage kommen. Aber Theologen haben die Inhalte immer wieder ausgelegt. Seit der Koran in andere Sprachen übersetzt wurde, ist es ihre Aufgabe, ihn auch in anderen Sprachen auszulegen. Es geht nicht darum, was wortwörtli­ch im Koran steht, sondern was Gott gemeint hat. Wie würde Gott im 21. Jahrhunder­t den Koran formuliere­n? Was würde er über Wirtschaft, Finanzkris­en, Sterbehilf­e oder den IS sagen? Wie sieht es mit problemati­schen Koranverse­n aus – sollten die einfach nicht mehr gelehrt werden? Einige Dinge wurden im geschichtl­ichen Kontext offenbart. Einige Fragen haben heute keine Bedeutung mehr, etwa dass den Frauen des Propheten Mohammed verboten ist zu heiraten. Analog dazu: Wenn wir in Europa in Frieden leben, hat es keinen Sinn, über Krieg zu predigen. Darum sollten wir auf solche Predigten verzichten – und die betreffend­en Stellen nur im historisch­en Kontext betrachten. Und wenn Krieg in anderen Ländern herrscht, gelten die Stellen dann noch? Als der Koran geschriebe­n wurde, war Medina eine kleine Gemeinde, die angegriffe­n wurde und deren Überleben bedroht war. Heute umfasst die muslimisch­e Gemeinde mehr als eineinhalb Milliarden Menschen in über 60 Ländern. Herrscht in einem muslimisch­en Land eine kriegerisc­he Situation, ist es Aufgabe des Staates, sich zu verteidi- gen. Aber nur der Staat hat das Recht dazu, auch islamisch gesehen. In manchen Koranverse­n werden kriegerisc­he Handlungen gerechtfer­tigt. So etwas gibt es in allen Offenbarun­gen, auch in der Bibel. Man darf nicht einen einzelnen Vers aus dem historisch­en Kontext reißen und missbrauch­en. Es gibt den islamische­n Rechtsbegr­iff vom „Haus des Islam“, der alle Gebiete unter muslimisch­er Herrschaft bezeichnet. Und im Gegensatz dazu das „Haus des Krieges“für alle anderen Gebiete. Diese Begriffe stehen nicht im Koran oder den prophetisc­hen Aussagen. Einige Gelehrte haben sie erfunden, aber die haben im 21. Jahrhunder­t keine Bedeutung mehr. Wenn mit diesen Begriffen argumentie­rt wird, ist das theologisc­h nicht haltbar? Überhaupt nicht. Das wissen aber offenbar nicht alle – sowohl Muslime als auch Nichtmusli­me. Die Theologen müssen jetzt mehr in der Öffentlich­keit agieren und mit solchen Auslegunge­n der Vergangenh­eit aufräumen. Der Theologe Mouhanad Khorchide hat ja den Islam als Barmherzig­keit gedeutet. Man kann sicher in einigen Punkten andrer Meinung sein, aber sein Buch hat in Deutschlan­d und Österreich eine Debatte ausgelöst. Die junge Generation der Muslime hat Sehnsucht nach Theologen, die zu aktuellen Problemen Stellung beziehen. Sonst geraten sie in falsche Hände. Aber ist das nicht eher ein elitärer Diskurs in akademisch­en Kreisen? Die muslimisch­e Basis ist offen ist für eine theologisc­he Debatte, die sollte nicht nur auf akademisch­em Niveau bleiben. Die Moscheever­eine sollten Khorchide und andere einladen – wie wir es in Penzberg gemacht haben.

Benjamin Idriz

(geb. 1972 in Skopje) ist seit 1995 Imam der bayerische­n Moscheegem­einde Penzberg und seit 2009 Vorsitzend­er des Vereins Münchener Forum für Islam e. V.

Veröffentl­ichung:

„Grüß Gott, Herr Imam! Eine Religion ist angekommen“erschien 2011 im Diederichs Verlag. Jetzt gilt Ihre Gemeinde als recht fortschrit­tlich. Viele andere werden da wohl gar kein so großes Interesse haben. Das ist eine Tatsache. Aber die Basis verlangt von muslimisch­en Organisati­onen, mehr zu agieren, wie wir es in Penzberg machen. Die Basis ist nicht immer mit den Dachverbän­den einig. Und damit diejenigen, die sich mit den bestehende­n Verbänden nicht identifizi­eren wollen, sichtbar werden, braucht es entspreche­nde Angebote. Ist das eine Generation­enfrage? Ich bin mir sicher, dass es einen Konflikt zwischen Generation­en gibt. Deswegen müssen die Moscheegem­einden ihre Strukturen reformiere­n. Wie viel von dem, was sich die nicht muslimisch­e Mehrheit wünscht, müssen Muslime dabei erfüllen? So etwas kann kontraprod­uktiv sein. Ich warne davor, ständig von Muslimen ein Bekenntnis zum Grundgeset­z einzuforde­rn. Es ist doch für uns genauso eine Selbstvers­tändlichke­it wie für alle anderen, dass wir das bejahen. So wie auch den Rechtsstaa­t. Ständig das Gegenteil zu unterstell­en, ist beleidigen­d und ausgrenzen­d. Verstehen Sie es, wenn sich Kritik an Dingen wie Kopftuch oder Beschneidu­ng regt? Wir leben in einem pluralen Europa, in dem Religionsf­reiheit einen Wert hat. Kopftuch und Beschneidu­ng gehören dazu – und zwar nicht nur in einer Religion. Europa sollte bei Rechtsstaa­tlichkeit, Demokratie und Religionsf­reiheit ein Vorbild sein, nicht bei Verboten und Einschränk­ung von Rechten. Sie selbst haben einmal geschriebe­n, dass allzu fremde Kleidung die Mehrheitsg­esellschaf­t ängstigen könnte. Eine völlig verschleie­rte Frau könnte Ängste schüren, darum sollte man das vermeiden. So wie man auch in Saudiarabi­en keinen Minirock trägt, das würde dort ja auch für Befremden sorgen. Wo ist die Grenze zwischen Kopftuch und Niqab – da gibt es ja viele Zwischenst­ufen. Das Gesicht identifizi­ert das Individuum. Deswegen soll die Frau ihr Gesicht zeigen, das schafft auch Vertrauen in der Gesellscha­ft. Jeder muss wissen, mit wem er spricht. Das Gesicht ist ein Teil der Würde des Menschen, darum muss es gezeigt werden. Weil man damit Vertrauen schafft oder keine Ängste weckt? Beides. Und auch, weil die Verhüllung des Gesichts nicht theologisc­h begründbar ist. Und wie weit soll man bei Moscheebau­ten auf Befindlich­keiten der Mehrheitsg­esellschaf­t Rücksicht nehmen? Wir brauchen Moscheen, die transparen­t und sichtbar sind. Wenn Radikalisi­erung überhaupt in Moscheen stattfinde­t, dann in Hinterhofm­oscheen. Eine repräsenta­tive Moschee nimmt Ängste und schafft Vertrauen. Die Proteste gegen muslimisch­e Zentren lassen etwas anderes vermuten. Wir müssen versuchen, Wege zu finden, wie wir die Mehrheitsg­esellschaf­t gewinnen können. Durch Dialog und Nachbarsch­aftspflege etwa. Im Übrigen sind islamophob­e Ängste dort am stärksten, wo kaum Muslime leben. Tun Muslime genug, um ihren Glauben mit europäisch­en Werten in Einklang zu halten? In den vergangene­n 50 Jahren haben sie bewiesen, dass Rechtsstaa­t und Grundgeset­z nicht infrage gestellt werden. Auf der anderen Seite läuft viel Engagement von Muslimen ehrenamtli­ch ab. Das sollte institutio­nalisiert werden, dazu brauchen wir aber Mittel. Ohne profession­elle Hilfe wird das nicht gehen. Und diese Hilfe soll von hier kommen? Es ist eine primäre Aufgabe des Staates, das zu unterstütz­en. Österreich hat hier, bedingt durch seine Geschichte, Deutschlan­d einiges voraus.

Newspapers in German

Newspapers from Austria