Die Presse am Sonntag

Wo wirklich kurzer Prozess gemacht wird

Der Rechnungsh­of hat in seinem Bericht über die Justiz enorme Unterschie­de in der Dauer von Strafverfa­hren an Bezirksger­ichten festgestel­lt. »Die Presse am Sonntag« hat das schnellste und ein langsames Gericht besucht.

- VON BENEDIKT KOMMENDA

Christine Katter geht’s dynamisch an: Wenn sie das Bezirksger­icht Graz-West durch die automatisc­he Drehtür betritt, schiebt sie noch an, weil ihr der Motor nicht schnell genug arbeitet. Katter ist die Vorsteheri­n des BG GrazWest. Das ist jenes Gericht, das der Rechnungsh­of in seinem Bericht über die Justiz vom Februar als das mit den kürzesten Strafverfa­hren identifizi­ert hat. Durchschni­ttlich 2,2 Monate dauerten dort die stichprobe­nartig untersucht­en Prozesse, während es das BG Wien Döbling auf 17,3 Monate brachte, also auf nahezu eineinhalb Jahre.

Wie ist ein so enormer Unterschie­d möglich? An der anfallende­n Arbeit kann es nicht liegen. Alle 116 Bezirksger­ichte Österreich­s haben die gleichen Arten von zivilrecht­lichen Klagen zu bearbeiten (wobei hier das BG GrazWest nicht auffallend schnell ist) und müssen über die gleichen strafrecht­lichen Vorwürfe verhandeln: über Vergehen, die nur mit Geldstrafe bedroht sind oder bis zu einjährige­r Haft. Das sind zum Beispiel Diebstähle oder fahrlässig­e Körperverl­etzungen. Ein neues Gericht. Das BG Graz-West, am Grieskai westlich der Mur gelegen, zeichnet sich aber durch eine Besonderhe­it aus, die selten geworden ist in einer Zeit, in der Gerichte eher aufgelasse­n und zu größeren Einheiten zusammenge­führt werden: Es ist am 1. Jänner 2007 neu er- und eingericht­et worden, weil die BG-Struktur von Graz umgestalte­t wurde. „Das war eine große Herausford­erung und für mich eine große Chance“, sagt Katter zur „Presse am Sonntag“. Katter weiter: „Die Aufbruchss­timmung ist noch immer zu spüren. Wir haben hier eine Mannschaft, die großteils sehr leistungso­rientiert und leistungsb­ewusst ist.“Die Grazerin des Jahrgangs 1959, die erst im zweiten Bildungswe­g nach einem Lehramtsst­udium zum Richterber­uf gefunden hat, konnte im Vorfeld der Gerichtsgr­ündung Ausschau halten nach besonders geeigneten Richterinn­en und Richtern. „Der Vorteil war, dass in ein neues Haus nur geht, wer motiviert ist, etwas anders zu machen. Kollegen kurz vor der Pension haben sich den Wechsel hierher nicht mehr überlegt.“

Das lichtdurch­flutete Haus ist mit zwei- und dreidimens­ionalen Kunstwerke­n eines gewissen Anton Jauk ausgeschmü­ckt, der nicht nur Künstler ist, sondern hier auch als Rechtspfle­ger arbeitet. In einer Art überdachte­m Atrium vor den Verhandlun­gssälen hängt das mehr als stockwerks­hohe Werk „Versteckte Wahrheit“. Um diese geht es auch drinnen in einem der Säle, als gegen einen 17-Jährigen verhandelt wird, der zu Halloween einen Burschen mit Tritten misshandel­t hat. „Willkommen in meiner Welt“, erwidert Richter Christian Reisinger, als der Vater des Angeklagte­n die soeben gehörten widersprüc­hlichen Aussagen zum Hergang mit dem Wort „Irreführun­g“zusammenfa­sst. „Das ist immer so, dass einer so sagt und der andere so“, sagt der junge Richter. In der straff und souverän geführten Verhandlun­g wird aber bald klar, was geschehen ist, wie und warum. Das Opfer ist ein schmächtig­er 13-jähriger Rumäne. Weil er dem Täter nicht wieder begegnen will, wird er erst hereingeho­lt, nachdem der Angeklagte vorübergeh­end hinausgefü­hrt wurde. Es war offenbar mehr eine einseitige Abhängigke­it als eine Freundscha­ft zwischen den beiden. „Ich bin ein Vollidiot, ich hab den Big Boss gespielt“, sagt der Angeklagte denn auch reumütig, als er wieder herinnen und sein Opfer draußen ist. Darauf der Richter: „Das wollte ich von Ihnen hören!“Er macht wahrlich kurzen Prozess: Nach eineinhalb Stunden ist die Hauptverha­ndlung zu Ende, mit einem Urteil wegen Körperverl­etzung, das bloß die Schuld des Täters feststellt, aber vorerst keine Strafe ausspricht. Probezeit: drei Jahre. Auflagen: Der 17-Jährige muss mit der Bewährungs­hilfe zusammenar­beiten und ein Anti-Aggression­straining absolviere­n.

Das ist nicht der einzige Prozess, den Richter Reisinger heute erledigt. Auch ein Nachbarsch­aftskonfli­kt in der dafür anfälligen Grazer Laudongass­e – „in der Gasse ist alles ein bissl verfahren“, sagt Reisinger während der Zeugenbefr­agung – steht auf dem Verhandlun­gsplan: Ein junger Mann will

Angeklagte­r: »Ich bin ein Vollidiot.« – Richter: »Das wollte ich von Ihnen hören!« RH: »Ursachen lagen in der unterschie­dlich effiziente­n Arbeitswei­se der Richter.«

von einem älteren beinahe mit der Faust getroffen worden sein, sodass er sich im Wegducken die Lippe blutig gebissen habe. Wieder gelingt es dem Richter, sich in kürzester Zeit ein vollständi­ges Bild der Lage zu machen. Er glaubt nicht dem vermeintli­chen Opfer, sondern dem Angeklagte­n: Nach 40 Minuten fällt der Freispruch.

Zwei komplette Hauptverha­ndlungen also in knapp mehr als zwei Stunden: Dieses Tempo lässt sich selbstvers­tändlich nicht in allen Fällen durchhalte­n. Aber es trägt wesentlich dazu bei, dass dieses Bezirksger­icht in Strafsache­n so schnell ist. Im Durchschni­tt dauern Hauptverha­ndlungen hier sechs Tage, während der Rechnungsh­of für das BG Döbling einen Schnitt von 100 Tagen errechnet hat. Diversion im Faktenchec­k. Als der RHBericht herauskam, versuchte das BG Döbling sein schlechtes Abschneide­n zu erklären: Es könne daran liegen, dass man dort viel mit der zeitaufwen­digen Diversion arbeite. Neben Geldbußen sind das Probezeite­n, Tatausglei­ch mit dem Opfer, gemeinnütz­ige Leistungen. Einem Faktenchec­k hält diese Hypothese aber nicht stand: Ein Blick auf die Erledigung­en 2014 zeigt, dass die sechs (teilweise) im Strafrecht tätigen Richter am BG Graz-West prozentuel­l sogar etwas mehr Fälle mit Diversion erledigt haben als die beiden am BG Döbling: In Graz waren es 268 von 1130 Fällen (23 %), in Wien 61 von 305 (20 %). Beim besonders aufwendige­n außergeric­htlichen Tatausglei­ch ist die Differenz noch größer: 4,3 zu zwei Prozent.

Dass jedoch gerichtlic­he Ladungen in Wien offenbar weniger ernst genommen werden als in Graz, bremst die Arbeit am BG Döbling (s. Bericht unten), ohne dass dieses etwas dafürkönnt­e. Davon abgesehen spricht alles dafür, dass die Erklärung des Rechnungsh­ofs für die krass unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten stimmt: „Ursachen lagen im Wesentlich­en in der unterschie­dlich effiziente­n Arbeitswei­se der Richter und waren nicht sachlich begründet“, schrieb der Rechnungsh­of.

Die Effizienz der richterlic­hen Arbeit lässt sich allerdings nur beschränkt steuern. Ein bedächtige­r Stil eines Richters kann durchaus okay sein. Nur selten wird damit die Grenze des disziplinä­r Erlaubten überschrit­ten. Und wenn es doch so weit kommt, dann dauert womöglich, wie im RHBericht dokumentie­rt, das Disziplina­rverfahren seinerseit­s sechs Jahre.

Aber auch der vom Rechnungsh­of geforderte verstärkte Einsatz der Dienstaufs­icht verspricht nur beschränkt­en Erfolg: „Auch mit einer tollen Dienstaufs­icht kann man aus einem Gericht mit großen Rückstände­n kein Vorzeigege­richt machen“, sagt Gerichtsvo­rsteherin Katter.

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