Weniger sind mehr willkommen
Die einheimischen Behörden waren früher wesentlich großzügiger und spontaner, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen ging. Während sich Österreicher gern an der Hilfe beteiligen, zählt für die Betroffenen vor allem das eigene Netzwerk.
Da drüben, wo der Traktor fährt, ist Österreich.“Der Bauer, der A´kos Halma´gyi mit zur Grenze genommen hatte, gab dem damals 16 Jahre alten Gymnasiasten die letzten Anweisungen für seine Flucht nach Österreich. Mit einer Aktentasche unterm Arm machte sich der junge Ungar am frühen Morgen des 15. Dezember 1956 auf den Weg in ein neues Leben. Er lief über die grüne Grenze, überquerte ein Feld, sprang hinten auf den Traktor auf und ließ sich bis nach Andau im burgenländischen Seewinkel mitnehmen.
Zurückgelassen hatte er seine Eltern und seine kleine Schwester. Sein Vater hatte ihm die nötige Erlaubnis besorgt, die abgeriegelte Zone knapp vor der Grenze zu betreten, und ihn auch hingebracht. Mit nach Österreich kommen wollten weder er noch die Mutter. „Als meine eigenen Kinder 16 waren, habe ich oft daran gedacht, was meine Flucht für meine Eltern bedeutet haben muss“, sagt A´kos Halma´gyi heute.
In den Herbstwochen 1956, als die Revolte der Ungarn gegen die kommunistische Regierung von der Sowjetarmee niedergeschlagen wurde, setzte eine Massenflucht ein. Als Schüler erlebte A´kos Halma´gyi, wie in seiner Heimatstadt in eine friedlich demonstrierende Menschenmenge geschossen wurde, wie die mehr als 100 Toten, darunter Schulkollegen, in den Garten eines Spitals gelegt und die für das Massaker verantwortlichen Offiziere von der aufgebrachten Menge gelyncht wurden. Ereignisse, die seinen Entschluss bestärkten, das Land zu verlassen.
Knapp 200.000 Ungarn flohen ab Ende Oktober 1956 aus Ungarn und fanden Aufnahme im benachbarten Österreich. In den burgenländischen Dörfern an der Grenze wurden Schulen zu Aufnahmezentren umfunktioniert, die Flüchtlinge dann weiter in ganz Österreich verteilt. Die Solidarität mit den Ungarn war groß, frisch war in Österreich noch die Erinnerung an die russische Besatzung. Innerhalb weniger Tage bekamen die Ungarn eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Nach rund vier Jahren konnten sie die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen. „Die junge Republik konnte ihre Eigenständigkeit und Neutralität beweisen“, erklärt der Historiker Bela´ Rasky,´ der zu diesem Thema eine Ausstellung im Wien-Museum kuratiert hat. Dieser Krisenfall wurde zu einem Katalysator für die Identität des „neuen“Österreich. Das Bild der hilfsbereiten jungen Republik werde bis heute gepflegt, es sei ein „Mythos, der für die Nationswerdung enorm wichtig war“. Die Hilfsbereitschaft sei tatsächlich groß gewesen, doch nach einiger Zeit sei es zu einem Stimmungsumschwung gekommen. „Wir können nicht die Wohltäter für alle Welt sein“, stellte Bundeskanzler Julius Raab einige Wochen nach der Niederschlagung des Aufstandes fest.
Viele hatten in Österreich Verwandte, die ihnen ein Quartier zur Verfügung stellten und auch bei der Jobsuche unterstützten. A´kos Halma´gyi klopfte bei einem Onkel in Wien an die Wohnungstür, den er noch nie zuvor gese- hen hatte. Onkel Romy half ihm, den Kurs für seinen weiteren Lebensweg zu finden: Er schlug ihm vor, die ungarische Schule in der Nähe von Innsbruck zu besuchen. Eigens für die jungen Ungarn-Flüchtlinge ohne Schulabschluss wurden in Österreich Schulen eingerichtet, an denen ungarische Lehrer tätig waren. Halmagyi´ ging nach Innsbruck, lernte Deutsch, trat 1958 zur Matura an und ging dann zurück in den Osten Österreichs, um sich in Wien eine Existenz als Computerfachmann aufzubauen. Er war einer der knapp 20.000 Ungarn, die in Österreich blieben. Mehr als 80 Prozent zogen weiter. „Zu unseren Maturatreffen kommen ehemalige Schulkollegen aus Kanada, aus Schweden, aus den USA angereist“, sagt er – das Spektrum jener Länder, in welche die meisten Ungarn weiterzogen. Als Gast im eigenen Land. „Ich bin nicht nach Österreich geflohen, weil ich ein fetteres Schmalzbrot wollte“, sagt Robert Urbanek und streicht die gelbe Tischdecke auf seinem Esstisch glatt. „Doch die Lage in meinem Heimatland war damals so angespannt, ich habe mich gefühlt, als wäre ich dort nur auf Besuch.“Robert Urbanek stammt aus Brünn in Südmähren (Tschechische Republik). Der heute 84-Jährige gehörte der deutschen Minderheit an, zu Hause wurde Deutsch gesprochen, er besuchte die deutsche Schule in Brünn. Der Großteil seiner Verwandtschaft wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 aus Südmähren vertrieben. „Sie waren beim Brünner Todesmarsch dabei“, sagt Urbanek. Rund 27.000 Angehörige der deutschen Minderheit mussten Ende Mai 1945 den Fußmarsch von Brünn über die österreichische Grenze antreten, tausende kamen ums Leben.
Die erste große Flüchtlingswelle nach und durch Österreich, als der Zweite Weltkrieg gerade vorbei war, waren eben jene vertriebenen Angehörigen der deutschen Minderheit aus Mittel- und Osteuropa. In Österreich trafen sowohl die vertriebenen Deutschen wie auch andere Displaced Persons (DP) – KZ-Überlebende, Zwangsarbeiter, ExKriegsgefangene – zunächst auf Ablehnung. Die Politik wollte sie loswerden. Doch die sogenannten Volksdeutschen organisierten sich erfolgreich. Im Wirtschaftsaufschwung füllten sie Lücken auf dem Arbeitsmarkt. „Sie haben die Rolle der Gastarbeiter vorweggenommen“, sagt Bernhard Perchinig vom Wiener International Centre for Migration Policy (ICMPD). Schließlich erhielten sie – anders als DP – im Jahr 1954 die Staatsbürgerschaft. Bis 1961 wurde eine Viertelmillion deutscher Vertriebener eingebürgert.
„Ich bin vorerst mit meiner Mutter und meinen zwei Brüdern wegen der kranken Großmutter in der Tschechoslowakei picken geblieben“, erzählt Urbanek. Doch 1968, als nach der kurzen Phase der Öffnung des kommunistischen Landes die Truppen des Warschauer Pakts in der Nacht zum 21. August 1968 einmarschierten und den Prager Frühling niederschlugen, sah der gelernte Tischler seine Chance gekommen. „Wir bekamen in diesem Durcheinander auf die Schnelle die Genehmigung zur Ausreise.“Die Urbaneks packten ihre Habseligkeiten in ihr Auto und verließen mit den beiden kleinen Töchtern am 23. September 1968 um drei Uhr morgens Brünn. Bei Verwandten in Klosterneuburg kamen sie unter. Eine Woche später hatte Robert Urbanek einen Job als Tischler, die Kinder gingen in die Hauptschule. Später zog die Familie nach Wien, die Töchter studierten, Urbanek arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Tischler. 162.000 Tschechen und Slowaken kamen 1968 nach Österreich, rund 12.000 blieben.
So wie bei den Ungarn waren die Flüchtlinge aus der CˇSSR meist gut ausgebildete Menschen, junge Akademiker oder Studenten, die auf dem österreichischen Arbeitsmarkt sehr gute Chancen hatten. Und fast alle hatten Verwandte in Wien, ein Netz, das sie
Ein Onkel, den er noch nie zuvor gesehen hatte, half Akos´ Halm´agyi weiter.