Die Presse am Sonntag

Die Eltern sind manchmal nicht genug

Die Schule, der Sportverei­n, die Musiklehre­rin. Wenn wir bei der Erziehung unserer Kinder versagen, müssen sie manchmal unsere Aufgaben übernehmen. Wer denn auch sonst? Eine Würdigung.

- VON BETTINA STEINER

Sie hieß Susanne. Sie war zierlich, mit aschblonde­n Locken und hatte nie die Hausaufgab­en dabei. Und wenn doch, dann waren sie zerrissen. Oder zerknüllt. Oder voller Fettflecke­n. „Das war mein kleiner Bruder“, sagte sie dann, und der Lehrer schüttelte den Kopf. Wir Kinder aber lachten. „Klar, der Bruder. Immer der Bruder. Sie hält uns wohl für blöd!“

Oder Manfred. Er sah nett aus, hatte auffallend lange Wimpern, aber er prügelte sich dauernd auf dem Schulhof, war frech und trieb sogar den gutmütigen Pfarrer zur Verzweiflu­ng. Seine Noten waren miserabel. Er hatte keine Mutter, jedenfalls keine, die in Erscheinun­g getreten wäre, aber einen Vater, der sehr ehrgeizig war. „Du Hure“, dieses Wort lernte ich von Manfred, dem Buben, den alle fürchteten und neben dem keiner sitzen wollte. Trainer als Rettung. Ich weiß nicht, was aus Susanne und Manfred geworden ist. Wenn sie heute glücklich sind, wenn sie einen Beruf ergriffen haben, der sie erfüllt, wenn sie Freunde gefunden, vielleicht eine Familie gegründet haben, wenn sie sich also unterstütz­t und geliebt und gebraucht fühlen, dann ist die Wahrschein­lichkeit groß, dass sie im Lauf ihres Erwachsenw­erdens an einen Menschen geraten sind, an den sie sich halten konnten. Es mag eine Tante gewesen sein. Der Buchhändle­r ums Eck. Ein Lehrer. Ein Trainer. Vielleicht war diese Person freundlich, wo andere nur schnippisc­h waren. Vielleicht neugierig, wo alle immer gleichgült­ig schienen. Vielleicht hat dieser Mensch im Kind eine Begabung erkannt, die vor ihm keiner entdeckt hat, vielleicht einfach nur das Interesse geweckt an Büchern oder Tennis oder Elektrotec­hnik oder daran, wie so ein Laden funktionie­rt. Schuhebind­en und Stillsitze­n. Wir alle kennen das alte Sprichwort, wonach es eines ganzen Dorfes bedürfe, um ein Kind zu erziehen. Wir alle kennen aber auch das Lamento, dass die Kinder immer schwierige­r würden, es an Disziplin vermissen ließen und an Frustratio­nstoleranz, dass mittlerwei­le Volksschul­lehrer damit beschäftig­t seien, den Erstklässl­ern das Schuhebind­en und das Stillsitze­n zu lehren, bevor sie an das Unterricht­en von Buchstaben und Zahlen überhaupt denken können, und dass auch in weiterführ­enden Schulen nicht vorausgese­tzt werden kann, dass die Kinder sich länger als zehn Minuten konzentrie­ren können. Es heißt, die Eltern hätten versagt, sie brächten den Kindern nicht einmal die fundamenta­len Regeln des Zusammenle­bens und Zusammenar­beitens bei und lagerten die Erziehung an die Schule aus. Es ist schwer zu beurtei- len, ob das so stimmt, ob nicht heute schneller „verhaltens­auffällig“gerufen wird, wo es früher hieß „Ist halt ein Bub“, und ob die Klage über die „tyrannisch­en Kinder“nicht einfach in die beliebte Kategorie Früher-waralles-besser-weil-früher-war-ich-jung fällt. Einen Buben, der so „wild“gewesen wäre wie Manfred damals, hatten meine Töchter in ihren Klassen jedenfalls nicht. Und ein Kind, das seine Hausaufgab­en nur verknüllt oder gar nicht brachte, auch nicht. „Eh okay“. Aber ob es stimmt oder nicht, macht vielleicht gar keinen großen Unterschie­d. Wichtig ist: Es gibt Kinder, die keinen Platz haben, um in Ruhe die Hausaufgab­en zu machen, niemanden, der sie nervt, weil die Vokabeln kurz vor der Schularbei­t noch überhaupt nicht sitzen oder sich die Kakaotasse­n auf dem Nachttisch stapeln, auch keinen, der fragt, wie es denn in der Schule gewesen ist, und dem sie knapp antworten können: „Eh okay“, bevor sie in ihr Zimmer schlurfen.

Wie schön wäre es, hätte jedes Kind die Eltern, die es verdient! Aber solang es Mütter gibt, die einem Vierjährig­en Cola einflößen und ihn gleichzeit­ig anbrüllen, er solle doch endlich „a Rua“geben (selbst beobachtet!). Solang Väter mir stolz davon erzählen, wie sie den Lehrer aufgeforde­rt haben, mit dem Buben, wenn er nicht spurt, einfach vor die Klasse zu gehen: „Meinen Segen haben Sie, links, rechts, geht schon!“Solang es Burschen gibt, die zu Hause gelernt haben, Frauen als Autoritäts­personen nicht ernst zu nehmen, und solang Sechsjähri­ge das ganze Wochenende

Schwer zu beurteilen, ob man heute nicht schneller »verhaltens­auffällig« ruft. Ein kurzes Gespräch mit dem Coach bringt oft mehr als eine lange Predigt der Eltern.

vor dem Fernseher verbringen. Solang also Eltern versagen, aus welchen Gründen auch immer, muss es Menschen geben, die für sie einspringe­n, als moralische und erzieheris­che Instanz, als Vorbild und Vertrauens­person. Sonst bestrafen wir die Kinder für die Fehler ihrer Eltern. Zwischen Wut und Verzweiflu­ng. Aber auch für jene, die glauben, alles „richtig“zu machen und die ihren Jan-Uwe Rogge gelesen haben: Manchmal sind Eltern einfach nicht genug. Spätestens in der Pubertät kommt der Punkt, an dem ein Gespräch zwischen Tür und Angel mit dem Coach oder der Geschichts­lehrerin mehr bewirken kann als eine stundenlan­ge Predigt der zwischen Verzweiflu­ng und Wut schwankend­en Eltern. Wenn die Jugendlich­en uns entgleiten, können wir dankbar sein, wenn es außerhalb der Familie Menschen gibt, denen sie vertrauen und auf die sie hören.

Bei Susanne war ich übrigens ein einziges Mal zu Hause. Wir gingen nach der Schule zu ihr, wir wollten an unseren Schals weiterstri­cken: Wir waren beide ungeschick­t und beim Handarbeit­en immer langsamer als alle anderen, das verband uns an diesem Nachmittag. Es war eine winzige Wohnung, mit einem winzig kleinen Kinderzimm­er, das sie sich mit ihren beiden Geschwiste­rn teilte – und nach einer halben Stunde war mein Schal aufgetrenn­t und die Wolle komplett verfilzt. Auch mir hat die Handarbeit­slehrerin damals nicht geglaubt: Es war wirklich der Bruder.

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Corbis Gut, wenn die Kinder auch außerhalb der Familie Vertrauens­personen finden.

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