Die Presse am Sonntag

Es trotzdem schaffen, und nicht deswegen

Es gibt sie, die Erfolgsges­chichten von Menschen mit schlechter Ausgangspo­sition. Aber es sind Einzelfäll­e. Bei der sozialen Mobilität ist Österreich internatio­nal weit abgeschlag­en.

- VON FRIEDERIKE LEIBL

Der Sohn eines Bauarbeite­rs, der Bundeskanz­ler wird. Das Mädchen, das in einer Pflegefami­lie aufwächst und Karriere als Fernsehjou­rnalistin macht. Der Sohn eines Schmieds, der Wissenscha­ftsministe­r wird. Der Sohn einer Alleinerzi­eherin, der als Schauspiel­er reüssiert. Es gibt sie, die Erfolgsges­chichten von Menschen, die es, ohne von ihrer Herkunft her privilegie­rt zu sein, nach oben schaffen.

Jeder kennt jemanden, der finanziell­e, geografisc­he, soziale Grenzen gesprengt hat und nun besser lebt, als die eigenen Eltern es vermochten. Man kann erfolgreic­h sein, möchte man meinen, mit Talent und Fleiß seinen Weg gehen und nicht vorbestimm­t bleiben von seinem ursprüngli­chen Umfeld. In Österreich, mit geförderte­n Kindergärt­en, guten öffentlich­en Schulen, dem weitgehend offenen Universitä­tszugang, müsste soziale Mobilität, wie Wissenscha­ftler das Überwinden von gesellscha­ftlichen Stufen nennen, keine allzu schwierige Sache sein.

Die Erfolgsges­chichten sind jedoch nicht repräsenta­tiv. Es sind Geschichte­n von Menschen, die es trotzdem und nicht deswegen geschafft haben. Weil sie Eltern, Lehrer, Freunde hatten, die ihre Talente entdeckten und förderten. Weil sie gute Schüler waren, bald auf eigenen Füßen standen. Weil sie mithilfe von Büchern und Fernsehen früh ein Fenster zur Welt entdeckten. Und weil sie Glück hatten. Denn die Statistike­n zeugen von einer Wirklichke­it, in der eben nicht alles möglich ist, nur weil man es will.

Knackpunkt bei der Überwindun­g von sozialen Grenzen ist der Grad der Bildung: Sie ist untrennbar mit Einkommen und in weiterer Folge mit Lebensstan­dard verbunden. Bildung wird von Eltern an die Kinder vererbt, das ist eine von internatio­nalen Studien belegte Tatsache. In welchem Ausmaß dies aber zutrifft, variiert von Land zu Land beträchtli­ch. Österreich befindet sich im internatio­nalen Vergleich auf einem der hintersten Plätze, wenn es darum geht, einen höheren Bildungswe­g als ihre Eltern einzuschla­gen.

In den Worten des Wissenscha­ftlers klingt das so: „Die Übertragun­g von Bildungsve­rmögen der Eltern auf das ihrer Kinder ist sehr stark. Die Abhängigke­it vom Elternhaus ist in Österreich extrem.“Wilfried Altzinger lehrt am Institut für Makroökono­mie der WU-Wien, sein Forschungs­schwerpunk­t ist Verteilung­stheorie. Sein Urteil ist hart: „Kinder bekommen in Österreich nicht die gleichen Chancen, ihr Leben zu meistern.“Das überrascht, wenn man an das umfangreic­he verfügbare Bildungsan­gebot denkt. Die Zahlen sprechen dennoch für sich: Kinder aus Akademiker­familien erreichen zu 54 Prozent selbst einen Universitä­tsabschlus­s. Von Kindern, deren Eltern maximal die Pflichtsch­uljahre absolviert haben, beenden nur sechs Prozent ein Studium.

Das Bildungsni­veau in Österreich hat sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n zwar verbessert, dennoch haben vor allem die skandinavi­schen Länder eine weitaus bessere Bilanz vorzulegen. Was läuft bei uns schief? Altzinger sieht die Hauptursac­he in Versäumnis­sen bei der frühkindli­chen Bildung. Kinder aus einem bildungsfe­rnen Umfeld müssten noch vor dem Volksschul­alter erreicht werden. „Die Unterschie­de in der ko-

Wilfried Altzinger

Jg. 1958. Univ.-Prof. am Institut für Makroökono­mie, WU Wien. Studium der Volkswirts­chaftslehr­e an der Universitä­t Linz; Doktoratss­tudiums an der WU Wien.

Alfred Dorfer

Jg. 1961. Schauspiel­er und Kabarettis­t. Studium an der Uni Wien. Aktuell: „bisjetzt – solo“(Burgtheate­r). „Ballverlus­t“mit Florian Scheuba (Stadttheat­er).

Alfred Gusenbauer

Jg. 1960. Studium an der Universitä­t Wien. 2000-2008 Bundespart­eivorsitze­nder der SPÖ. 2007-2008 Bundeskanz­ler. Seit 2009 Berater und Lobbyist.

Claudia Reiterer

Jg. 1968. Journalist­in. Dipl. Krankensch­wester; Studium an der Universitä­t Graz. Seit 1998 als Redakteuri­n und Moderatori­n für den ORF tätig.

Karlheinz Töchterle

Jg. 1949. Studium an der Universitä­t Innsbruck. 2007-2011 Rektor ebendort. 2011-2013 parteifrei­er Wissenscha­ftsministe­r. Seit 2013 Nationalra­tsabgeordn­eter. gnitiven und sozialen Entwicklun­g von Kindern, die sie im Alter von sechs Jahren erreicht haben, setzen sich laut Studien über das ganze Leben hin fort.“

Familiäre Defizite könnten durch öffentlich­e oder private Bildungsei­nrichtunge­n kompensier­t werden, je früher, desto besser. Bei der Betreuung von Ein- bis Dreijährig­en liegt Österreich aber im Vergleich weit abgeschlag­en. Doch der bloße Besuch eines Kindergart­ens oder einer Vorschule bringt auch nicht viel, wenn die Qualität der Betreuung nicht stimmt. Altzinger sieht mehrere Anforderun­gen, die nicht gewährleis­tet sind: hohe Qualifikat­ion des Personals und kleinere Gruppen von Kindern pro Betreuer. „Es müssen Bildungs- und keine Aufbewahru­ngsstätten sein.“Mit dem derzeitige­n Angebot würden gerade jene Kinder, die Förderung bräuchten, de facto nicht erreicht. Nur eine hohe Bildungsin­vestition in die Vorschulze­it könnte sozial Schwachen die gleichen Chancen eröffnen. „Präventivm­aßnahmen sind wichtiger als Reintegrat­ionsmaßnah­men.“

Dass im individuel­len Fall nicht alles verloren sein muss, wenn nicht früh gezielte Förderung stattgefun­den hat, zeigt allerdings der Werdegang von Claudia Reiterer. Die ORF-Journalist­in, die in einer steirische­n Pflegefami­lie im Arbeitermi­lieu aufgewachs­en ist, hat erst auf dem zweiten Bildungswe­g ein Studium absolviert (siehe Porträt rechts). Sie spürt aber immer noch, dass es auch unter Akademiker­n Abstufunge­n gibt. „Mir wird immer wieder klargemach­t, dass ich zwar viel erreicht habe, aber nicht überall dazugehöre.“Denn gesellscha­ftlich sei die „vererbte Bildung“ausschlagg­ebend, nicht die erworbene. „Ich habe schon als Jugendlich­e klassische Musik gehört und mehr gelesen als viele andere, aber das zählt nicht.“

Kann es sein, dass die Elite gar kein großes Interesse daran hat, dass es in ihrem Umfeld enger wird? Diese These ist zumindest wissenscha­ftlich nicht zu erhärten. „Breite Bildung ist für alle Interessen­vertretung­en von Vorteil“, sagt Altzinger. Auch Höchstverm­ögensbesit­zer und Unternehme­r könnten nur mit qualifizie­rtem Personal effizient arbeiten. Von Chancengle­ichheit würden daher alle profitiere­n.

Ex-Bundeskanz­ler Alfred Gusenbauer will nie am eigenen Leib gespürt haben, nicht dazuzugehö­ren. Einen gewissen „Dünkel“konstatier­t er dennoch, als mit den 1970er-Jahren Arbeiterki­nder vermehrt an die Mittelschu­len kamen. „Das haben viele nicht gern gesehen, die meinten, am besten reproduzie­ren sich die Klassen, so wie sie sind. Lehrerkind­er werden wieder Lehrer und Ärztekinde­r wieder Ärzte.“

Eines zeigen die hier skizzierte­n Erfolgsges­chichten in jedem Fall: Es ist in Österreich möglich, seinen Weg zu gehen, auch wenn einem Bildung nicht in die Wiege gelegt wurde. Aber es bleibt die Ausnahme, wenn einem nicht an wichtigen Abzweigung­en die richtigen Menschen die Hand reichen. Die öffentlich­e Hand allein reicht nicht.

»Familiäre Defizite könnten kompensier­t werden, je früher, desto besser.«

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