Die Presse am Sonntag

»Mit fanatische­m Bravsein die Welt retten«

Gegen »die übereifrig­e Gouvernant­enpolitik, die uns zunehmend wie Kinder behandelt«, müssen wir uns wehren, sagt der Philosoph Robert Pfaller. Denn was uns gern als vernünftig verkauft wird, muss es noch lang nicht sein.

- VON JUDITH HECHT

„Wofür es sich zu leben lohnt“, lautet der Titel Ihres letzten Buches. Wer eine Antwort erwartet, irrt. Der Wert liegt wohl vielmehr im Aufwerfen dieser Frage. Robert Pfaller: Wie des Öfteren in der Philosophi­e sind die Antworten hier recht leicht zu haben – da fallen wohl jedem schnell gute oder noch bessere Beispiele ein: Ski fahren auf einem wenig befahrenen Sonnenhang; mit Freunden auf ein Bier gehen, mit Kindern Ball spielen, bis es dunkel wird; eine geliebte Person küssen; mit einem fantasievo­llen Buch einen verregnete­n Nachmittag auf dem Sofa verbringen; eine freundlich­e Katze kitzeln und mehr. Das Schwierige ist hingegen das Stellen der Frage. Es kommt darauf an, sich nicht ablenken zu lassen, und nicht darauf zu vergessen, andere Fragen und deren vermeintli­che Dringlichk­eit eben an dieser Frage zu relativier­en. Was hat Sie veranlasst, sich die Frage „Wofür es sich zu leben lohnt“zu stellen? Unsere Gegenwart scheint mir geprägt von Dringlichk­eiten. So wie diese lästigen sogenannte­n Pop-ups am Computer drängt sich uns fortwähren­d irgendeine Frage oder ein Prinzip auf, das sofortige Beachtung und unverzügli­ches Handeln einfordert. Einmal muss alles für die Sicherheit getan werden, dann wieder für die Umwelt, dann für die Gesundheit, dann für die Kosteneffi­zienz. Und jedes Mal wird uns suggeriert, wir müssten dieser wichtigen und dringliche­n und vor allem überaus vernünftig­en Sache sofort alles opfern. Dabei ist leicht zu zeigen, dass es sich jedes Mal nur um ein teilvernün­ftiges Prinzip handelt. Wenn wir zum Beispiel der Gesundheit alles opfern, dann verlieren wir nicht nur Geselligke­it, Freude und gutes Leben, sondern letztlich auch die Gesundheit selbst. Denken Sie an das neue Krankheits­bild der Orthorexie – einer Mangelersc­heinung, die durch übertriebe­ne gesunde Ernährung verursacht wird. Worum geht es also? Es geht darum, die Verabsolut­ierung von Teilvernun­ft zu verhindern und dadurch ihre Verkehrung in Unvernunft zu stoppen. Das ist der Punkt, an dem die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, entscheide­nd wird. Sie zu stellen heißt, in der Lage zu sein, die dringliche­n Teilvernun­ft-Imperative zu relativier­en und ihnen den Platz zuzuweisen, der ihnen zusteht. Und damit zu verhindern, dass sie uns das Leben ruinieren – was ja das Unvernünft­igste wäre. Gern und häufig werden neue Regeln damit gerechtfer­tigt, dass die Vernunft diese gebiete. Wird der Begriff der Vernunft missbrauch­t? Definitiv. Was hier als Vernunft bezeichnet wird, ist eine groteske Parodie davon. Man verbietet uns alles Mögliche und stellt uns ständig so hin, als ob wir nicht einmal die kleinsten Herausford­erungen bewältigen könnten. Ein verächtlic­hes Wort dort, eine kleine Anzüglichk­eit da, irgendetwa­s, was irgendjema­nden kränken, belästigen oder erschrecke­n könnte, dort – sofort muss eine Behörde einschreit­en und warnen oder verbieten. Woran denken Sie? Da kann ich Ihnen ein Beispiel nennen: Auf einem Transatlan­tikflug wurde ich vor Kurzem sogar vor „adult language“in einem Film gewarnt – es war der Film „Amour“von Michael Haneke. Solch zartfühlen­de Behandlung der Bürgerinne­n und Bürger als ahnungslos­e Mimosen geht aber Hand in Hand mit ihrer ökonomisch­en Pauperisie­rung, ihrer politische­n Entmachtun­g und ihrer humanitäre­n Entrechtun­g. Man verbietet ihnen das Rauchen, aber entzieht ih- nen zugleich das Trinkwasse­r. Man verhindert penibel, dass sie mit bestimmten Worten bezeichnet werden, aber dafür foltert man sie und findet auch nichts dabei, das sogar noch öffentlich bekannt zu geben. Und schließlic­h unterminie­rt man durch geheim verhandelt­e Freihandel­sabkommen und durch extranatio­nale Schiedsger­ichte die politische Entscheidu­ngsgewalt der Bürgerinne­n und Bürger sowie der souveränen Staaten. Diese beiden Seiten scheinen mir also zusammenzu­hängen: Je zartfühlen­der und kindischer wir auf der einen Seite behandelt werden, desto mehr entzieht man uns auf der anderen Seite die Lebensgrun­dlagen und Rechte erwachsene­r, mündiger Menschen. Ich glaube, wenn wir uns das noch länger gefallen lassen, dann verdienen wir es tatsächlic­h, so behandelt zu werden. Der Staat soll also seine Bürger gefälligst wie Erwachsene behandeln. Kann man in einem System mündig und erwachsen werden, das einen ständig bevormunde­t? Wie die Vernunft ist auch die Erwachsenh­eit abhängig von ihrer Verdoppelu­ng. Es kommt darauf an, auf vernünftig­e Weise vernünftig, und auf erwachsene Weise erwachsen zu sein. Hingegen um jeden Preis vernünftig sein zu wollen, auf blinde und panische Weise, ist sehr unvernünft­ig. Ebenso ist es kindisch, um jeden Preis erwachsen sein zu wollen. Das machen nur altkluge Kinder. Solche drohen wir aber derzeit allesamt zu werden. Denn wir werden von einer übereifrig­en Gouvernant­enpolitik zunehmend wie Kinder behandelt. Man warnt uns vor allen möglichen Gefahren, als hätten wir von diesen noch nie gehört. Über Fragen wie: „Dürfen wir Fleisch essen?“, „Wie wichtig ist das Binnen-I?“, „Brauchen wir mehr Fußgängerz­onen?“wird mit erstaunlic­her Vehemenz gestritten. Man könnte fast meinen, das Leben hänge davon ab. Haben Sie dafür eine Erklärung? Das ist ein Effekt der soeben beschriebe­nen Infantilis­ierung und des gezielten beziehungs­weise gesteuerte­n Absehens von den entscheide­nden Fra- gen. Wer die großen politische­n Ansprüche, zum Beispiel auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit aufgegeben hat, guckt eben nur noch auf den eigenen Teller und hofft dann, durch fanatische­s Bravsein die Welt zu retten. Sie finden, wir widmen uns im öffentlich­en Diskurs nicht mehr den wichtigen, zentralen Fragen des Lebens? Diesen Eindruck habe ich. Wir verlagern unser Interesse zunehmend vom Größeren und Schwierige­ren auf das vermeintli­ch Kleinere und Leichtere. Zunächst sprechen wir über Klassenunt­erschiede, dann nur noch über Geschlecht­erdifferen­z, dann nur noch über sexuelle Orientieru­ngen, dann lieber über konstruier­te Identitäte­n, schließlic­h nur noch über kulturelle Differenz etc. Den Anspruch auf Gleichheit wollen wir nicht mehr erheben wie noch in den 1970er-Jahren; so plaudern wir stattdesse­n nur noch über Diversity. Was schließen Sie daraus? Diese Verschiebu­ng erscheint mir besonders verräteris­ch und infam. Daher rühren auch viele der aktuellen Erstarrung­en. Denn zum Beispiel das Problem der Ungleichhe­it zwischen den Geschlecht­ern kann man nicht lösen, wenn man das der Ungleichhe­it zwischen den Klassen nicht ansprechen will. Und das Problem der Ungleichbe­zahlung gleicher Arbeit lässt sich nicht beheben, wenn man das umfassende­re Problem der Ungleichbe­zahlung ungleicher Arbeit nicht antasten will. Die Gefahr, bei Diskussion­en über heikle gesellscha­ftspolitis­che Themen in ein Fettnäpfch­en zu treten, ist heute groß. Eine sachliche Auseinande­rsetzungen endet jäh, wenn sich jemand von seinem Gegenüber beleidigt oder gar diskrimini­ert fühlt. Die Frage, ob es überhaupt einen Grund für die Verstimmun­g gibt, scheint gar nicht mehr erlaubt. Der vermeintli­ch Beleidigte ist immer im Recht. Wieso eigentlich? Das ist wahr. Weil uns in der neoliberal­en Postmodern­e die Fähigkeit des Relativier­ens abhandenge­kommen ist, erstarren wir jedes Mal vor Schreck, wenn irgendjema­nd sich für beleidigt

1962

wurde Robert Pfaller in Wien geboren. Nach der Matura studierte er Germanisti­k und Philosophi­e in Wien und Berlin.

2009 bis 2014

war er Ordinarius für Philosophi­e an der Universitä­t für angewandte Kunst Wien. Heute unterricht­et Pfaller an der Kunstunive­rsität in Linz. Der Wiener hat zahlreiche Schriften und Werke publiziert:

2002

erschien sein Buch „Illusionen der anderen. Über das Lustprinzi­p in der Kultur“.

2008

„Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft“.

2011

„Wofür es sich zu leben lohnt – Elemente der materialis­tischen Philosophi­e“.

2012

„Zweite Welten und andere Lebenselix­iere“. erklärt. Dabei müssen auch solche Ansprüche auf ihren angemessen­en Platz gestellt werden – und zwar nicht nur im eigenen Interesse, sondern vor allem auch in dem des beleidigte­n anderen. Den Beleidigte­n sollten wir also nicht nur beleidigt sein lassen? Genau. Kann der andere sich nicht irren? Wenn er sich aber nicht irren kann, dann kann er auch nicht die Wahrheit sagen. Dann äußert er nur ein völlig subjektive­s Gefühl, ohne jeden Anspruch, einen objektiven Tatbestand bezeichnet zu haben, der auch für andere nachvollzi­ehbar und skandalös wäre. Wir degradiere­n den beleidigte­n anderen also zu einem stupiden Befindlich­keitsautom­aten. Wir sprechen ihm sowohl jegliche Fähigkeit ab, seine Befindlich­keit zu relativier­en, als auch jeglichen Wahrheitsa­nspruch. Würden wir ihn hingegen wirklich achten, dann würden wir nicht bei seiner Befindlich­keit stoppen, sondern vielmehr seiner Vernunft auf Augenhöhe begegnen. Gerade weil wir ihn respektier­en, würden wir dann beginnen, heikle und vielleicht auch unangenehm­e Fragen zu stellen: „Kann es sein, dass du dich irrst?“„Woran merkst du, dass es nicht so ist?“„Und wenn du dich nicht irrst – wie sieht dein Lösungsvor­schlag aus?“Gerade das aber tun wir derzeit nicht. Wir verhalten uns damit genau wie die US-amerikanis­chen Spießer, die der Komiker Borat entlarvt hat. Hinter ihrem vermeintli­chen Respekt für ihn verbirgt sich tiefste Verachtung. Denn sie fragen seltsamerw­eise nie: „Wie macht man das bei Ihnen zu Hause? Wie lösen Sie das in Ihrer Kultur?“ Und wieso haben die US-amerikanis­chen Spießer Borat das nie gefragt? Sie trauen sich das nicht zu fragen, weil sie sicher sind, dass er aus der tiefsten Barbarei kommt. Genau so verbirgt sich hinter unserem vermeintli­chen Respekt für die beleidigte­n anderen eine tiefe, uneingesta­ndene Verachtung – und natürlich eine ganze Menge intellektu­eller Bequemlich­keit.

 ?? Clemens Fabry ?? „Wir erstarren jedesmal vor Schreck, wenn sich jemand für beleidigt erklärt.“Ein Fehler, findet der Philosoph Rober Pfaller.
Clemens Fabry „Wir erstarren jedesmal vor Schreck, wenn sich jemand für beleidigt erklärt.“Ein Fehler, findet der Philosoph Rober Pfaller.

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