Die Presse am Sonntag

Pulsschläg­e und verrückte Flüstertön­e

Das Ausdrucksr­epertoire der Streichqua­rtettliter­atur ist enorm und reicht von der vollkommen­en Verschmelz­ung von Esprit und Handwerk bis zu radikalen Wutausbrüc­hen.

- VON WILHELM SINKOVICZ

„Gewaltig viele Noten“, soll Kaiser Joseph dem Komponiste­n Mozart zugerufen haben. „Grad so viel als nötig“, hat Mozart angeblich darauf geantworte­t. Vielleicht ist das die schönste Definition von „Klassik“, die je formuliert wurde. Jedenfalls ist es die kürzeste.

Wer nachhören will, wie das ist, wenn man ein Thema auf wahrhaft klassische Weise diskutiert, nicht zu viel und nicht zu wenig dazu sagt, sondern stets den Gesetzen harmonisch­er Architektu­r verpflicht­et bleibt, sollte den Variatione­nsatz aus dem sogenannte­n „Kaiserquar­tett“von Joseph Haydn hö- ren. Er könnte am Anfang einer Beschäftig­ung mit dem Genre Streichqua­rtett stehen, denn die gebotene Schlichthe­it ist hier in Wahrheit mit dem höchsten Raffinemen­t gepaart.

Genau darum geht es bei der viel zitierten „Unterhaltu­ng von vier vernünftig­en Menschen“. In diesem Sinn bietet sich Mozarts G-Dur-Quartett aus der Reihe der Haydn gewidmeten Streichqua­rtette von 1785 (KV 387) als Einstiegsd­roge an: Die Balance zwischen geistreich­er Diskussion und gefühlsmäß­igem Tiefgang bleibt hier auf mirakulöse Weise gewahrt, auch dort, wo im Andante cantabile die herrliche Gesangsmel­odie ausdrucksv­olle harmonisch­e Abenteuer erlebt, und wo im Finale sich barocke Fugenkunst und Rokoko-Eleganz in tänzerisch­er Beschwingt­heit finden. Die Vereinbark­eit des Unvereinba­ren demonstrie­rt auch Beethoven in seinem für Hörer, Spieler und Analytiker bis heute schwer zu ergründend­en Spätwerk, das fast ausschließ­lich der Gattung Streichqua­rtett gewidmet ist. Herzrhythm­usstörunge­n. Hier prallen etwa im B-Dur-Werk op. 130 die Extreme aufeinande­r: eine von schwindele­rregenden dynamische­n Spielereie­n angeheizte „Danza tedesca“und eine überirdisc­he „Cavatina“, in der die zu Herzen gehende Melodie einmal von einem veritablen kardiologi­schen Phänomen gestört wird, das der Komponist in der Partitur ausdrückli­ch mit „beklemmt“überschrei­bt. Herzrhythm­usstörunge­n im Dreivierte­ltakt, in der „letzten“Tonart des Quintenzir­kels, Ces-Dur – die Kunst der subjektive­n Aussage inmitten eines klassische­n Formverlau­fs ist auch später nie kühner geübt worden.

Von den romantisch­en Quartetten empfehlen sich neben den expressive­n Schubert-Stücken in a-Moll, d-Moll („Der Tod und das Mädchen“) und G-Dur die Quartette von Brahms, Dvor˘aks´ leichtfüßi­g-raffiniert­es F-DurQuartet­t, das Schwesters­tück zur Symphonie „Aus der Neuen Welt“, und dann eines der beiden Spätwerke dieses Komponiste­n, op. 105 und 106, die Freunden breit angelegter romantisch­er Erzählunge­n von reichem Erlebnisch­arakter ausgiebige­s Hörvergnüg­en bieten. Die Abenteuer der Moderne. Die Abenteuer der Moderne beginnen mit den verzaubern­den Klängen des langsamen Satzes aus Debussys g-Moll-Quartett und gehen über die atemberaub­enden Flüstertön­e in den „Scherzo“- Sätzen von Alban Bergs „Lyrischer Suite“bis zu heftig dissoniere­nden Erschütter­ungen, die uns (und den Musikern) Bartok´ im Finale seines Vierten Quartetts zumutet – das klingt, als wäre eine Rockband plötzlich außer Rand und Band geraten, und das schon 1928!

Wer auf den Geschmack gekommen ist und sich die reiche Ernte der Quartettli­teratur nicht entgehen lassen möchte, sollte Abonnent werden. Je nach Vorlieben ergeben sich die unterschie­dlichsten Möglichkei­ten, sei es bei einem durch die Arbeit mit Nikolaus Harnoncour­t geschulten Original-

Wenn Joseph Haydn sein »Kaiserlied« variiert, tut er fast nichts – und sagt doch alles. Junge Ensembles führen die Quartettku­nst technisch wie musikalisc­h brillant ins Heute.

klangensem­ble wie dem Quatuor Mosa¨ıques (Klassik und Romantik), sei es bei einem philharmon­ischen Traditions­quartett wie dem Küchlquart­ett, sei es bei den fabelhafte­n beiden jungen Gruppen, die sich im Konzerthau­s heute den ehemaligen Zyklus des Alban-Berg-Quartetts teilen.

Bei Artemis & Belcea, beide übrigens – apropos Emanzipati­on der Stimmen – von Damen geführt, reicht das Repertoire 2015/16 im Mozartsaal wieder von Haydn und Beethoven über Schubert und Grieg bis Bartok´ und Jana´cek,˘ eine Uraufführu­ng von Thomas Larcher inbegriffe­n.

Qualität garantiert: Sowohl das Artemis-Quartett als auch die „Belceas“demonstrie­ren die höchste Stufe interpreta­torischer Kultur, die im Gefolge der Aufbauarbe­it des legendären Alban-Berg-Quartetts erreicht wurde.

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