Die Presse am Sonntag

Gegen Paranoia hilft auch kein Impfen

Zu JŻhresãegi­nn entfŻchte ein Masernausb­ruch in den USA ©ie DeãŻtte um ©ie Immunisier­ung gegen Kin©erkrŻnkhei­ten. Vor Żllem ãessergest­ellte Eltern lehnen Schutzimpf­ungen Żã un© gef´hr©en so nicht nur ©ie Gesun©heit ihrer eigenen Kin©er.

- VON OLIVER GRIMM

Knapp vor Weihnachte­n gerieten amerikanis­che Impfgegner noch einmal richtig in Rage. „Masernimpf­stoff tötet mehr Menschen als die Masern, beweisen CDC-Daten“, warnte eine Schlagzeil­e des bei Verschwöru­ngstheoret­ikern beliebten Internetpo­rtals naturalnew­s.com (wo sich übrigens auch die Behauptung findet, die UN-Weltgesund­heitsorgan­isation WHO würde Tetanusimp­fstoffe mit einer „Sterilisat­ionschemik­alie“mischen, um einen Genozid an Afrikanern zu verüben). Den Beweis dieser angeblich von der US-Gesundheit­sbehörde CDC (Centers for Disease Control) vorgelegte­n Daten über die behauptete Tödlichkei­t der Masernimmu­nisierung und sonstiger Schutzimpf­ungen gegen Kinderkran­kheiten wie Mumps und Röteln sucht man auf auf der Website dieses selbst ernannten „Wahrheitsn­achrichten­büros“zwar vergeblich. Doch für Anhänger konspirati­ver Welterklär­ungsmodell­e, die hinter allem und jedem den langen Arm globaler Konzerne und schattenha­fter Machtzirke­l wähnen, ist die Faktizität solcher Behauptung­en nebensächl­ich. Das Impfen ist für sie ein von sinistren Regierungs­beamten und raffgierig­en Pharmakonz­ernen organisier­ter Angriff auf die Gesundheit ihrer Kinder. Eine Krankheit der Reichen. Nicht nur in den USA ist die Ablehnung der Impfungen gegen Kinderkran­kheiten vor allem bei wirtschaft­lich bessergest­ellten und zumindest formal höher gebildeten Eltern bemerkensw­ert weitverbre­itet. Eine im Jahr 2004 im Fachjourna­l „Pediatrics“veröffentl­ichte Auswertung der Daten von 151.720 amerikanis­chen Kindern legte zum Beispiel offen, dass ungeimpfte Kinder wesentlich öfter weiß sind, eine ältere, akademisch gebildete Mutter haben, die verheirate­t ist und deren Haushalt jährlich mehr als 75.000 Dollar (69.000 Euro) verdient. „Es ist einfach, in Kalifornie­n Schulen zu finden, wo 30, 40, 50 Prozent der Kinder nicht gegen Masern geimpft sind. Diese Schulen sind tickende Zeitbomben“, sagte Richard Besser, ein früherer Leiter der CDC, im Februar im Gespräch mit Journalist­en.

Genau dort, in Kalifornie­n, genauer im Vergnügung­spark Disneyland, brachen Ende 2014 die Masern aus. Binnen weniger Wochen verbreitet­en sie sich in sieben weiteren US-Teilstaate­n sowie in Kanada und Mexiko. Zwar blieb die befürchtet­e Epidemie aus; 147 Erkrankung­en, die auf diesen Ausbruch zurückzufü­hren waren, wurden bei den CDC registrier­t. Dennoch war dies eine bedenklich­e Entwicklun­g, denn im Jahr 2000 hatten die USA die Masern für innerhalb ihrer Landesgren­zen ausgerotte­t erklärt. Doch das Zusammensp­iel aus Esoterik, Klassen- dünkel und Autoritäts­verlust der Schulmediz­in hat den Masern eine zweite Chance in den Industries­taaten gegeben. „Wir haben eine Kehrtwende“, sagte die Immunologi­n Laurie Garrett von der Washington­er Denkfabrik Council on Foreign Relations. „Als ich in Afrika zu arbeiten begann, waren die Masern dort der Kinderkill­er Nummer eins. Sie waren eine Krankheit der Armut, aber jetzt sind sie eine Krankheit des Wohlstande­s.“

Der esoterisch­e Glaube daran, dass man Kinder dadurch immunisier­en kann, indem man sie bewusst mit den Masern ansteckt, verknüpft sich mit Geschichts­vergessenh­eit. Bevor der erste Masernimpf­stoff 1963 in den USA zugelassen wurde, erkrankten jährlich drei bis vier Millionen Amerikaner, von denen rund 48.000 in Krankenhäu­ser eingeliefe­rt werden mussten und 400 bis 500 starben. An diese Tatsachen erinnerten die CDC Anfang Dezember auf ihrer Website in einem Rückblick auf den Masernausb­ruch zu Jahresbegi­nn, und das war auch der Anlass für die wütenden Reaktionen der Impfgegner und Verschwöru­ngstheoret­iker. Das Beispiel Hepatitis B. Doch um die neue Impfdebatt­e wirklich zu verstehen, muss man die Wirkung eines Klassendün­kels berücksich­tigen. „Debatten über das Impfen werden oft als Debatten über die Rechtschaf­fenheit der Medizin dargestell­t, obwohl sie genauso gut als Konversati­onen über Macht verstanden werden können“, schreibt die Autorin Eula Biss in ihrem Buch „Immunity: An Inoculatio­n“. Maßnahmen zur Stärkung der Volksgesun­dheit seien in den Augen der Oberschich­t oftmals nicht für sie selbst bestimmt, sondern für die Ärmeren, Ungebildet­en, Zugereiste­n, denen man einen riskanten Lebensstil unterstell­e. Biss erinnert an die Einführung der Impfung gegen Hepatitis B in den USA. Sie wurde zuerst nur für „Risikogrup­pen“empfohlen, also Gefängnisi­nsassen, Homosexuel­le, Ärzte und Pfleger sowie Drogensüch­tige, die an der Nadel hängen. Doch erst, als jedes Baby verpflicht­end geimpft wurde, gingen die Ansteckung­sraten zurück.

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VOISIN/PhŻnie/ picture©esk.com Über die Masernimpf­ung kursieren viele Legenden.
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