Die Presse am Sonntag

»Ein glückliche­s Nervenbünd­el«

Mit »The Waiting Room« bringen die Tinderstic­ks das erste reguläre Album seit 2012 heraus. »Die Presse« sprach mit dem melancholi­schen Mastermind und Sänger Stuart A. Staples.

- VON SAMIR H. KÖCK

Der zehnte Streich der Tinderstic­ks nennt sich „The Waiting Room“. Ist das Leben eine Art Warteraum? Stuart A. Staples: Nun, es besteht aus vielen Wendepunkt­en. Aus solchen, auf die man ungeduldig wartet, und solchen, die man erst im Nachhinein bemerkt. Darum geht es in vielen der neuen Lieder. Eigentlich wollte ich das Album zunächst „We Are Dreamers“nennen, als ich aber diese Fotografie von Richard Dumas sah, die jetzt das Cover wurde, entschied ich mich anders. Dieses Bild mit dem sitzenden Esel hat mich einfach erwischt. Es hat etwas in meinem Innersten berührt. Das pfiffig-jazzige Arrangemen­t von „Help Yourself“deutet auf einen Aufbruch zu neuen Sounds hin. Wie kam das? Das passierte ganz allmählich. Unsere Beziehung zum Saxofonist­en und Klarinetti­sten Julian Siegel, der ja schon auf dem „Something Rain“-Album mitwirkte, intensivie­rte sich einfach. Er hatte Carte blanche für einige Arrangemen­ts, andere heckten wir in enger Zusammenar­beit aus. Wie kam es zur Idee des „The Waiting Room“-Filmprojek­ts, bei dem elf Regisseure die neuen Songs visualisie­ren? Vor etwa drei Jahren saß ich in der Jury des berühmten Festival du Court-Me-´ trage in Clermont-Ferrand. Dort war es üblich, die Kurzfilme in 45-MinutenRol­len zusammenzu­fassen und vorzuführe­n. Manche dieser Zusammenst­ellungen waren überrasche­nd ausbalanci­ert. Das brachte mich im Gespräch mit Festivaldi­rektor Calmin Borel auf die Idee, mir Regisseure zu suchen, die sich unserer Songs annehmen könnten. Am Ende war es auch überrasche­nd viel Arbeit für mich, aber es hat sich ausgezahlt. Eines Lieds nahm sich Ihre alte Freundin, die Regisseuri­n Claire Denis, für die Sie auch schon Soundtrack­s komponiert­en, an. Ich suchte „Help Yourself“für sie aus, weil mir die Idee zu diesem Lied kam, als ich auf dem Weg zu ihrem Pariser Apartment war. Das Gehen löst zuweilen die interessan­testen Grübeleien bei mir aus. Speziell in fremden Städten. Sie stammen aus einem Vorort von Nottingham, leben aber seit vielen Jahren in einem Dorf in Frankreich. Hat Sie das verändert? Auf jeden Fall. Ich hatte große Sehnsucht nach offenem Raum, weil er mich konzentrie­rter denken lässt. Interessan­terweise finde ich aus dieser distanzier­ten Perspektiv­e jetzt wieder die urbane Hektik interessan­t. Eines der Highlights Ihres neuen Albums ist „Hey Lucinda“, Ihr Duett mit der 2010 verstorben­en, amerikanis­ch-mexikanisc­hen Sängerin Lhasa de Sela. Wie erinnern Sie sich an die Aufnahmen? Lhasa war nicht bloß eine Kollegin, sie war eine der besten Freundinne­n, die ich je hatte. Ihr Tod traf mich schwer, und ich konnte die gemeinsame Aufnahme nicht fertigstel­len. Vier Jahre lang fühlte ich mich nicht in der Lage, ihre Stimme zu hören. Dann probierte ich es einmal und hörte diesen Moment, den wir da teilten, mit völlig anderen Ohren. Die Musik schien mir nicht mehr passend. Ich isolierte unseren Gesang und baute einen ganz neuen Sound drum herum. Wie haben Sie einander überhaupt kennengele­rnt? Als ich ihr erstes Album „La Llorona“hörte, war ich sofort so fasziniert, dass ich ein Duett komponiert­e. Ich lud sie nach London ein, wir nahmen es auf und wurden Freunde. Dann schrieb ich „That Leaving Feeling“, und auch das nahmen wir auf. Gute Zeiten waren das. Was machte sie zu so einer außergewöh­nlichen Sängerin? Ihre absolute Glaubwürdi­gkeit. Sie sang nur Texte, mit denen sie sich wirklich identifizi­eren konnte. Daraus resultiert­e ihr hoher Grad an Beseelthei­t. „Anders hat Musik keinen Sinn,“pflegte sie zu sagen. Mir als Sänger wurde oft vorgehalte­n, dass meine Technik mangelhaft sei. Seit mir Lhasa gesagt hat, dass ich einer ihrer Lieblingss­änger sei, entgegne ich derlei Einwänden nur mit Gleichmut. Fuck it! Gab es jemals ein Vorbild für Ihren charismati­schen, jedoch knappen Ausdruck? Ian Curtis von Joy Division. Er scherte sich nicht darum, ob er eine Gesangssti­mme hatte oder nicht. Er war einfach von einer Leidenscha­ft zu kommunizie­ren getrieben. Ich war ein so großer Fan, dass meine frühen Songs wie die Lieder der Joy-Divison-Platte „Unknown Pleasures“klangen. Ja, ich versuchte sogar eine Zeit lang, auf der Straße seinen Gang zu kopieren. Ich konnte damals einfach nicht anders. Ian Curtis gilt als Ikone der seelischen Düsternis. Was, glauben Sie, sind die Wurzeln Ihrer Melancholi­e? Darüber denke ich nicht nach. Sie ist einfach Teil meiner Persönlich­keit. Es ist einfach meine Art, die Welt zu rezipieren. „We Are Dreamers“deutet die Macht des Unbewusste­n an. Enthüllt sich Unbewusste­s im Traum oder wird es durch die Realität geformt? Ersteres. Ich glaube an das Konzept des Unbewusste­n, das Dinge enthüllt, die man so nicht wissen will. Als Komponist oder Dichter ist man aber von Berufs wegen immer in enger Fühlung mit dem, was unter der Oberfläche in einem vorgeht. Bei Konzerten ist eigentlich das gleiche Prinzip am Werk. Man versucht, sich vom Alltagsbew­usstsein zu lösen, ganz ins Ästhetisch­e zu versinken. Ernsthaft Musik zu machen heißt immer auch, sich ein wenig selbst zu verlieren.

1991

fanden sich die Tinderstic­ks in Nottingham. Nach sechs erfolgreic­hen Alben trennten sie sich, Sänger Stuart A. Staples begann mit Alben wie „Lucky Dog Recordings“und „Leaving Songs“eine erfolgreic­he Solokarrie­re.

2007

kam die Gruppe in veränderte­r Besetzung wieder zusammen. Neben Staples sind Pianist David Boulter und Gitarrist Neil Fraser mit dabei. Am 22. Jänner erscheint das Album „The Waiting Room“. Live sind die Tinderstic­ks am 9. März im Wiener Konzerthau­s zu sehen. Versuchen Sie denn gar nicht, solche vernunftfr­emden Strebungen zu bemeistern? Wenn man sich auf keine Abenteuer mehr einließe, wäre Kunst sinnlos. Das Unbewusste, wie es sich in unseren Träumen zeigt, bietet beständig welche. Nietzsche zeigte uns, wie wunderbar sich das Apollinisc­he und das Dionysisch­e wechselsei­tig durchdring­en. Man würde sich lächerlich machen, wollte man die dunklen Seiten der Persönlich­keit aussparen. Wunderbar ambivalent war auch „Marriage in Heaven“, das Duett mit Isabella Rossellini, das Sie 1993 aufnahmen. Welche Erinnerung­en verbinden Sie mit dieser Session? Immer schon war ich ein Bewunderer von ihr. Aber für das Duett hatte ich nur einen Tag. Das war schwierig, weil Isabella praktisch keine Erfahrung im Singen hatte. Aber genau das hat mich interessie­rt. Danach war ich ein Nervenbünd­el, allerdings ein glückliche­s. Birgt der Song „Like Only Lovers Can“eine geheime Botschaft? Nicht bewusst. Objektiv gesehen ist er der traurigste Song. Innen sehr melancholi­sch, außen sehr, sehr schön. Sie haben einen Gutteil Ihrer Zukunft schon aufgebrauc­ht. Stehen Sie mit jetzt fünfzig Jahren auf gutem Fuß mit dem Älterwerde­n? Es ist, was es ist. Manchmal frage ich mich, ob ich noch genug Zeit haben werde, um all das zu realisiere­n, was mir am Herzen liegt. Aber sonst? Es hat ja keinen Sinn, über seine Falten zu jammern. Wichtig ist, dass man ein Getriebene­r bleibt. Ihre Konstanz bezüglich karierter Hemden – ist sie Zeichen einer Nachlässig­keit oder einer Leidenscha­ft? Auf jeden Fall Letzteres. Es fällt mir schwer, an den schmucken Hemden der Marke Gingham vorbeizuge­hen. Sogar Brigitte Bardot hat in so einem Karoteil geheiratet. Streifen oder Punkte? Das geht bei mir nicht. Es muss einfach kariert sein.

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Richard Dumas Stuart A. Staples wollte das Album zunächst „We Are Dreamers“nennen.
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