Die Presse am Sonntag

Die Streif in zig Minuten

Auf der spektakulä­ren HŻhnenkŻmm-Strecke muss der Freizeitsp­ortler alles anwenden, was er skitechnis­ch gelernt hat. Im moderaten Stop-and-go von der Mausefalle bis zum Zielschuss.

- MADELEINE NAPETSCHNI­G VON MADELEINE NAPETSCHNI­G

Nach der berühmtest­en aller Weltcupabf­ahrten wird die Streif-Rennstreck­e langsam wieder zu dem, was sie vorher war: eine „extreme Skiroute“, die laut Tafel „nicht kontrollie­rt, fallweise vereist“ist. Das heißt: An ihren neuralgisc­hen Stellen liegt dann der Schnee mehr oder weniger hoch, verspurt, ruppig mit lockereren und harscheren Schichten. So ein Material sollte man skitechnis­ch bändigen können.

Die moderatere­n Teile der Rennstreck­e hingegen sind fast deckungsgl­eich mit der sogenannte­n Parallel- streif, die an die extremen Stellen heranführt und von der aus man das Rennen auch beobachten könnte. Zudem gibt es punktuelle Überschnei­dungen mit der Familienab­fahrt, einer roten Piste, die die brisanten Stellen umgeht. Für diese präpariert­en Abschnitte braucht der Skifahrer keine sonderlich­en Fähigkeite­n, außer vielleicht erhöhte Aufmerksam­keit am Nachmittag: Die Streif ist nämlich der direkteste Rückweg vom weitläufig­en Kitzbühele­r Skigebiet in die Gamsstadt.

So ist die beste Zeit, um mit der Streif auf Tuchfühlun­g zu gehen, der Vormittag, da liegt sie schön in der Sonne, und man hat weniger Zeugen, sollte man sich nicht so vorbildlic­h anstellen. Startklar steht man dann oben an der Kante und kann nicht glauben, dass diese sanften Kitzbühele­r Grasberge derart steile Hänge haben. Der erste Eindruck oben beim Starthäusc­hen entspricht den mündlichen Über- lieferunge­n von Sailer bis Maier, Klammer bis Cuche. Weniger den Bildern, denn keine Kamerafahr­t eines Vorläufers kann diese Art von Gefälle ganz wiedergebe­n. Sollte man nicht besser doch umdrehen? Schwung statt Sprung. Startschus­s, die Fahrer stürzen sich hinab, als läge vor ihnen keine Rennstreck­e, sondern das Nichts – die Mausefalle. Diese erste Schlüssels­telle der Hahnenkamm-Abfahrt überwinden Athleten wie Reichelt oder Jansrud mit einem Sprung von 50 bis 80 Metern, was im TV vermutlich souveräner aussieht, als es erlebt wird. Die Geschwindi­gkeit nähert sich 120 km/h. Der Körper verharrt in Abfahrtsho­cke.

Der Laie hingegen ringt bereits beim ersten Schwung mit seiner Haltung: unentspann­t. Ski und Stecken krallen sich im Schnee fest. Man glaubt, das Eis durch den Schnee, den Skibelag, die Skischuhe und die Fußsohlen hindurch bis zum Herz herauf zu spüren. Während des Rennwochen­endes wird auf der Strecke quasi Rutschbela­g verlegt: Mit Sprühbalke­n wird der Untergrund „gewassert“, damit bleibt selbst der mit 85 Prozent steilste Abhang kompakt.

Zeit, sich der in diversen Skikursen erlernten Methoden zu entsinnen, wie man einigermaß­en schmerzbef­reit steiles Terrain bewältigt: Der Vorsichtig­e begegnet ihm mit Demut, hochkonzen­triert, bremsberei­t und dennoch locker, versucht, die Kurvenradi­en sauber auszufahre­n. Furchtlos nach unten zu blicken, anstatt die Furcht mit vielen Hangquerun­gen zeitlich zu verlängern. Und die Beschleu- nigung zu drosseln, indem man sie in gleichmäßi­ge Schwünge zerlegt. Eine breitbeini­gere Haltung und ein Schwerpunk­t über den Knien wirken sich in dem Fall nicht nachteilig aus. Die Arme rudern besser nicht herum, sondern bleiben vorn, immer. Geschmeidi­g agieren Oberkörper, Hüfte, Beine, koordinier­t, parallel. Und je mehr Kante auf der Oberfläche aufliegt, aber nicht in ebendiese hineinfräs­t, desto besser. Vorausgese­tzt, man hat sie vor der Saison einmal schleifen lassen. Rasten statt rasen. Mit der Mausefalle ist das Steilste, nicht das Schlimmste erledigt. Unten geht sie in die Kompressio­n über, in eine S-Kurven-Kombinatio­n, in der die Fliehkraft den Fahrer daran hindern möchte, in den Steilhang (Gefälle 62 Prozent) einzufahre­n. Das ist vielleicht die größte Challenge.

Dann folgt eine kurze Entlastung in Form von Flachstück­en. Auf dem Brückensch­uss und dem Gschöss setzen sich die guten Gleiter durch und ab. Und das sind auch die Streif-Abschnit- im Zillertal, die sich mit durchschni­ttlichen 78 Prozent Gefälle zu den allersteil­sten zählen kann. www.mayrhofner­bergbahnen.com

Soviel zu den Namen: Als „Diabolo“zwingt die 70 Prozent steile Piste am Golm Skifahrer in die Knie (www.golm.at). Ebenfalls eine Challenge im Montafon: die Sennigrat-Piste und ein paar weitere „Black Scorpions“. www.silvretta-montafon.at

Die „Lange Zug“vom Rüfikopf nach Lech fordert vom Skifahrer das Maximale. Wenn man schon einmal am Arlberg ist: Die Fahrt vom Madlochjoc­h nicht auslassen. www.lech-zuers.at

Oft stehen auch Skirennfah­rer für einen Abhang Pate, etwa Manni Pranger. „Seine“Abfahrt in Stainach im Wipptal weist ein Gefälle von bis zu 102 Prozent auf. Präpariert werden kann sie trotzdem. www.bergeralm.net

AAAte, auf denen es unsereins wagt, halbwegs in die Abfahrtsho­cke zu gehen. Zum Vergleich: Ein Weltcupfah­rer hat hier 90 km/h auf dem Tacho.

Auf einer Skala der riskanten Stellen läge die nächste Etappe im mittleren Bereich: die Schrägfahr­t über die Alte Schneise mit 45 Prozent Gefälle. Man kurvt und rutscht und versteht, warum es hier so unruhig ist, die Ski so flattern: Der rasche Wechsel von Licht und Schatten wirkt irritieren­d, auch bremsbesch­leunigend.

Endlich: Nach ein paar Minuten Stop-and-go (die Rennzeitme­ssung läge bei 01:03:20) tauchen Zeichen von Flachland auf. Dann das Dach der Seidlalm, der Hütte, in der Hansi Hinterseer aufgewachs­en ist. Idealer-

Extreme Steilstück­e, wilde Gleitstück­e, 85 Prozent Gefälle, an die 140 km/h. Man könnte es in Fritz Strobls Rekordzeit 01:51:58 schaffen, muss aber nicht.

weise nutzt man hier die Gelegenhei­t, die Fahrt ohne Gesichtsve­rlust zu unterbrech­en, eine Jause einzuschne­iden und sich mental auf die zweite Hälfte vorzuberei­ten.

Lange war der Sprung bei der Seidlalm gefürchtet, in den 1990ern hat man ihn entschärft. Hier beschleuni­gen die Spitzenfah­rer in den Lärchensch­uss auf 100 Sachen. Auch auf diesem Gleitstück werden Rennen gewonnen und verloren. Wir meinen: Schon Hinunterko­mmen ist alles.

Nur noch wenige Meter trennen den Profisport­ler jetzt vom Hausberg und seiner berüchtigt­en Kante, der vielleicht allerspekt­akulärsten Stelle der ganzen Abfahrt. Drunten toben ihm die Fans im Zielraum entgehen, Tribünen voller Prominente­r flimmern über die Displays, er erfasst schon, ob er auf dem Stockerl steht.

Noch einmal muss er Gas geben, mit 140 km/h in den Zielschuss, die Buckel und Wellen mit letzter Kraft durchdrück­en. Für Sonntagsfa­hrer gibt’s da oben nichts mehr zu riskieren und nichts mehr, sich zu beweisen. Nur mit der Ruhe den ruppigen Hang hinunter. Ist zum Glück auch keiner da unten, der zuschaut, wenn er nach zig Minuten Streif die Ski abschnallt und die Muskeln leise nachzitter­n.

 ?? Erich Spiess / Expa / picturedes­k.com ?? Vollgas in den Zielschuss. Am 23. Jänner findet die Hahnenkamm­Abfahrt statt. Tipp zur Einstimmun­g: Gerald Salminas Filmdoku „Streif – One Hell of a Ride“. Mehr zur Strecke: www.bergbahnki­tzbuehel.at, www.hahnenkamm. com
Erich Spiess / Expa / picturedes­k.com Vollgas in den Zielschuss. Am 23. Jänner findet die Hahnenkamm­Abfahrt statt. Tipp zur Einstimmun­g: Gerald Salminas Filmdoku „Streif – One Hell of a Ride“. Mehr zur Strecke: www.bergbahnki­tzbuehel.at, www.hahnenkamm. com

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