Die Presse am Sonntag

Ein Glückspilz im Realitätss­chock

Nicht Wladimir Putin hat Russland groß gemacht. Der Ölpreis hat Putin nach oben gespült. Weil er in den fetten Zeiten reformfaul war, fehlen dem Land heute die Wachstumsm­otoren.

- VON EDUARD STEINER

Es ist eine Mischung aus Ohnmacht, Unterwürfi­gkeit und archaische­r Namenstabu­isierung, wenn die Russen WWP sagen. So wie Untergeben­e schon im alten Rom einfach Er sagten, wenn sie von ihrem Hausherrn sprachen. Die Russen hingegen sagen WWP, wenn sie den Herrn des Landes, ihren Präsidente­n, meinen. Kein ausgeklüge­ltes Akronym, fürwahr. Nur die Initialen aus Vor-, Vaters- und Familienna­me: W(ladimir) W(ladimirowi­tsch) P(utin). Und doch ehrfurchte­inflößend, weil klanglich hart. Putin, der Unumschrän­kte. Putin, der Allmächtig­e.

Welch Zufall, dass das gleiche Akronym im Russischen auch das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) bezeichnet. W(alovyj) W(nutrenniy) P(rodukt) heißt die Kennzahl, die die gesamte Wirtschaft­sleistung eines Jahres angibt.

Da kann es schon zu Verwechslu­ngen kommen. Noch schlimmer aber zur Annahme, dass das eine ursächlich mit dem anderen zu tun habe. Und dass Putin es gewesen sei, der Russland nicht nur internatio­nale Bedeutung zurückgege­ben, sondern nach der Depression der 1990er-Jahre auch die Wirtschaft über ein Jahrzehnt lang zum Erblühen gebracht habe, ehe sie vor über zwei Jahren in eine Stagnation und im Vorjahr in eine tiefe Rezession zu schlittern begonnen hat. WWP machte WWP, so das hartnäckig­e Narrativ.

In Wahrheit freilich ist die Sache komplizier­ter. Bei genauem Hinsehen erscheint Putin nicht als Wunderwuzz­i, sondern als einer der größten Glücksritt­er der Geschichte, geht sein Höhenflug doch mit dem Rohstoffbo­om der Nullerjahr­e einher. Man braucht dafür gar nicht Putins jahrelang inhaftiert­en Gegner Michail Chodorkows­ki zu bemühen, der vor einiger Zeit im Interview mit dem „Spiegel“festhielt: „Er (Putin, Anm.) hat viel Glück gehabt bisher. Der hohe Ölpreis hat ihm geholfen, seine vielen Fehler zu maskieren.“ Beschränkt­er Elan. Hatte der Preis für die Ölsorte Brent knapp vor Putins Amtsantrit­t im Jahr 2000 noch unter 20 Dollar je Barrel und damit tiefer als jetzt gelegen, so lag er neun Jahre später beim Fünffachen. Damit stieg im selben Zeitraum auch das Fördervolu­men um 60 Prozent. Und das BIP, Russisch WWP, gar um 83 Prozent. „Dies war jedoch kein Erfolg von Putins Wirtschaft­spolitik, sondern des gewaltigen Ölpreisans­tiegs auf dem Weltmarkt“, schrieb Roland Götz, vormals Russland-Experte der Stiftung für Wissenscha­ft und Politik in Berlin, voriges Jahr in der Zeitschrif­t „Osteuropa“.

Der Boom hätte Putin eigentlich genug Spielraum für Wirtschaft­sreformen gegeben. Nur zu einem geringen Teil hat er ihn auch genutzt. So für die wichtige Landreform 2002, die Privatleut­en zum ersten Mal seit 1917 den Kauf von Agrarland ermöglicht­e. Bezeichnen­d, dass sich sein Reformwill­e auf die erste Amtszeit bis 2004 beschränkt­e. Immerhin hat er Milliarden Petrodolla­rs zur Bedienung der Auslandssc­hulden verwendet bzw. einen Reservefon­ds eingericht­et. Man solle Putins Wirken nicht kleinreden, meinte daher kürzlich sein Wirtschaft­sberater Andrej Belousov im Interview mit der „Presse“: „Entscheide­nd war die Entschloss­enheit zu handeln.“

Schon ab seiner zweiten Amtszeit aber, als der Ölpreis richtig hoch und die Oligarchen von den Schaltstel­len der Politik vertrieben waren, konnte sich der Kreml-Chef auf die Machtabsic­herung und die großzügige Verteilung von Geldern an kurzfristi­g unzufriede­ne Gruppen konzentrie­ren. Großer Widerstand im Volk kam ohnehin nicht auf, zumal so gut wie alle Schichten von den Öleinnahme­n profitiert­en. Selbst die von den Hardlinern diktierte Eindämmung der Privatwirt­schaft zugunsten eines ineffizien­teren Staatssekt­ors fiel Unkenrufen zum Trotz lang nicht negativ ins Gewicht. Die Wirtschaft lief auch so wie von selbst und wurde von der globalen Finanzkris­e nur kurz zurückgewo­rfen. Das verdankte sie auch dem Privatkons­um, der von 1999 bis 2013 um das Zweieinhal­bfache anstieg, so Michail Dmitriev, bis zum Vorjahr Chef des russischen Zentrums für strategisc­he Studien: „Aber die Investitio­nen stagnierte­n.“Und so ist das gesamte Wachstumsm­odell nun mitten im Umbruch. Böses Erwachen. Es ist dieses böse Erwachen, das Putin und seinen Leuten die Sorgenfalt­en ins Gesicht treibt. Ab 2013 schaffte Russland, trotz damals hohen Ölpreises, nur noch ein Wachstum von 1,3 Prozent, das sich 2014 halbierte und 2015 zu einer Kontraktio­n um vier Prozent führte. Für heuer ist eine weitere Rezession prognostiz­iert. In Dollar sind die Löhne auf das Niveau von 2005 gefallen, das BIP ebenso. 280 Mrd. Dollar betrug der Kapitalabf­luss in den vergangene­n drei Jahren. Eine neue Emigration­swelle läuft.

Die Erklärunge­n, warum Russland hart gelandet ist, sind im Detail vielfältig. Und doch herrscht Einigkeit darin, was Wladimir Mau, Rektor der staatliche­n Akademie für Volkswirts­chaften, konstatier­t: Die Boomphase des Wiederaufb­aus nach dem Kollaps der Sowjetunio­n sei der starken Nachfrage und freien Produktion­skapazität­en zu verdanken. Die Löhne seien schneller gestiegen als die Produktivi­tät, was auf Kosten der Investitio­nen gegangen sei. Weil alles Augenmerk auf sozialpoli­tische Stabilität gerichtet gewesen sei, sei nicht auf das Investitio­nsklima (etwa Beseitigun­g von Beamtenwil­lkür und Korruption) geachtet worden.

Der Befreiungs­schlag steht also aus. „Die Machthaber hätten Zeit und Ressourcen gehabt, um Russland, wenn schon nicht in ein zweites China, so in neue Emirate zu verwandeln, indem sie die Basis für einen jahrzehnte­langen Wirtschaft­saufschwun­g gelegt hätten“, so Wladimir Inozemcev, Direktor des Moskauer Zentrums für Studien zur postindust­riellen Gesellscha­ft.

15 Jahre noch, sagte dieser Tage Wirtschaft­sminister Alexej Uljukajew: Dann würden die Russen „in einem komfortabl­en Land“leben. Derweil zählt Putin auf die Geduld des Volkes. Dieses nämlich glaubt mehrheitli­ch, dass WWP-Putin dem Land das lange Zeit hohe WWP-Wachstum beschert hat – und an der jetzigen Rezession der verschwöre­rische Westen schuld ist.

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EPA Die Russen sind stolz auf ihren Präsidente­n. Aber sie bewerten ihn über. Putin hatte Riesenglüc­k mit dem Ölpreis. Heute ist er ratlos.

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