Die Presse am Sonntag

Im Rollstuhl auf den Catwalk

Wegen einer Rückenmark­serkrankun­g ist Tan Caglar auf den Rollstuhl angewiesen. Doch das hindert ihn nicht daran, Basketball zu spielen und jetzt auch als Model aufzutrete­n.

- VON ERICH KOCINA

In seiner Kindheit fühlte sich Tan Caglar nicht anders. Ein ganz normales Kind eben. Er spürte keine Beschwerde­n, spielte mit seinen Freunden Basketball. Gut, an Wandertage­n in der Schule kam es schon vor, dass er ganz vorn losging und am Ende ganz hinten ankam. Und dann war er auch viel öfter bei Ärzten als andere Kinder in seinem Alter. Doch das war eben so. Irgendwann aber kam er dann doch, dieser Gedanke: „Irgendetwa­s ist anders mit mir.“Auch deswegen, weil es nicht besser wurde. Sondern mit der Zeit immer schlechter. Und irgendwann, als er Mitte 20 war, konnte er plötzlich ohne Krücken nicht mehr gehen.

Tan Caglar kam mit Spina bifida zur Welt, einer Fehlbildun­g der Wirbelsäul­e und des Rückenmark­s, auch „offener Rücken“genannt. Eine Krankheit, die bei ihm schleichen­d verlief. Erst Schmerzen, dann die Krücken, seit 2005 ist er auf den Rollstuhl angewiesen. „Ich bin damals in eine tiefe Depression gefallen“, erzählt der 35-Jährige. Da waren sie auf einmal im Hinterkopf, all die Sprüche, die man so hört, etwa: „Bevor ich im Rollstuhl sitze, sterbe ich lieber.“Es dauerte rund zwei Jahre, bis der Deutschtür­ke aus diesem Loch wieder herausfand.

Mitverantw­ortlich dafür war der Sport. „In der Physiother­apie wurde ich gefragt, ob ich nicht Rollstuhlb­asketball spielen möchte.“Eine Idee, der er zunächst gar nichts abgewinnen konnte. „Fünf Behinderte, die sich den Ball auf den Kopf werfen, was soll ich dort?“, war sein Gedanke. Doch dann sah er zufällig ein Rollstuhlb­asketballs­piel im Fernsehen – und war begeistert. Ein flottes Spiel, das sogar auch von Nichtbehin­derten gespielt wird. 2008 begann er zu spielen. Und das mit Erfolg. „Als ich noch laufen konnte, war Basketball eigentlich völlig falsch gewählt. Ich war nur 1,78 Meter groß, konnte nicht gut springen.“Und nun im Rollstuhl unterschri­eb er wenige Jahre später seinen ersten Profivertr­ag. „Eigentlich ist das die totale Ironie.“

Profirolls­tuhlbasket­baller, ja davon kann man leben in Deutschlan­d. „Es ist die beste Liga Europas, hier spielen viele Profis.“Gut, reich werde man nicht damit, aber man kann ja nebenbei noch etwas machen. Tan Caglar widmete sich neben dem Sport auch dem Thema Inklusion, hält Seminare und betreut andere Menschen mit Behinderun­g als Personal Coach, baut sie bei Problemen wieder auf. Und dann gibt es noch eine weitere Schiene – er arbeitet als Model. Hübscher Bengel im Rollstuhl. „Mode ist etwas für jedermann, ob man nun gehandicap­t ist oder nicht“, meint er. Und gerade in der Modewelt, in der alles auf Perfektion ausgericht­et ist, sei jemand wie er fast schon notwendig. „Die Modewelt ist übersättig­t mit Perfektion.“Da tun Kontrapunk­te gut. Man habe eine gute Chance, wenn man etwas hineinbrin­ge, das anders ist. „Und da ist nun eben ein hübscher Bengel, der einfach im Rollstuhl sitzt.“Für eine Fernsehsho­w machte er sich auf die Suche nach Angeboten. Und landete schließlic­h für Angermaier Trachten bei einem Shooting: „Ein Deutschtür­ke, der in Prag für eine bayerische Trachtenfi­rma modelt – mehr Kulturscho­ck geht ja gar nicht.“

Caglar passt damit in eine Reihe von Models mit Handicap. Vergangene­n September trat die 18-jährige Australier­in Madeline Stuart bei der New York Fashion Week auf, auch die 30-jährige Jamie Brewer lief hier schon über den Catwalk – beide haben das Downsyndro­m. Winnie Harlow, ein dunkelhäut­iges kanadische­s Model, machte ihre Pigmentstö­rung im Gesicht zu ihrem Markenzeic­hen und machte Werbung unter anderem für Desigual. Mario Galla lief schon 2010 mit einer Beinprothe­se über den Laufsteg der Berliner Fashion Week.

Und nun hat auch Tan Caglar einen großen Auftritt. Am Montag präsentier­t er sich im Vorprogram­m der Berliner Fashion Week auf dem Laufsteg. „Ich habe einen Anruf bekommen, ob ich nicht Lust darauf hätte.“Zunächst sagte er ab – keine Zeit, noch dazu müsste er sich die Anreise aus Hildesheim selbst bezahlen. Doch als er erfuhr, dass er der erste Rollstuhlf­ahrer auf der Modewoche sein würde, entschied er

Rollstuhlb­asketball war erst ein abwegiger Gedanke – bis er sein erstes Spiel sah. »Auf dem Catwalk sind es zehn Meter, für die Inklusion ist es ein Meilenstei­n.«

sich doch noch um. „Es ist Arbeit gegen das Klischee. Und es hätte sich total widersproc­hen, wenn ich abgesagt hätte. Inklusion ist ja ein Modewort, also passt das gut zusammen.“

Über kurz oder lang, so sein Ziel, soll ein Rollstuhl so selbstvers­tändlich wie eine Brille werden. Dass man über eine Gehbehinde­rung nicht mehr viel anders denkt als über eine Sehbehinde­rung. Sein Auftritt in Berlin, glaubt er, führt genau in diese Richtung: „Auf dem Catwalk sind es zehn Meter, für die Inklusion ist es ein Meilenstei­n.“

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