Die Presse am Sonntag

Unaufmerks­amkeit ist keine Krankheit

Schüler lŻn©en schnell ãei ©iversen TherŻpeute­n. Doch ©iese BehŻn©lungsmetho©en sin© kein ErsŻtz für P´©Żgogik un© un© keine »WŻschmŻsch­inen« für Kin©erseelen. Ein Gespr´ch mit ©em deutschen Kinderarzt MichŻel HŻuch.

- VON KIRSTIN BREITENFEL­LNER

In der Volksschul­zeit werden die meisten Therapien verordnet. Unsichere oder überforder­te Pädagogen stufen Konzentrat­ionsschwäc­hen oder Entwicklun­gsverzöger­ungen, Teilleistu­ngsschwäch­e und Reifungsve­rzögerung immer schneller als therapiebe­dürftig ein. Wenn Ihr Kind also bereits wenige Wochen nach Schulstart eine Diagnose bekommt, heißt es vorsichtig sein – denn auf den ersten Blick harmlose Therapien wie Ergo-, Logo- oder Physiother­apie können Kindern mehr schaden als nützen, wenn sie nicht indiziert sind, meint Michael Hauch, der seit über zwanzig Jahren als niedergela­ssener Kinderarzt arbeitet.

Sein neues Buch „Kindheit ist keine Krankheit“, das er mit seiner Frau Regine, einer Journalist­in, verfasst hat, ist ein Appell, Kindern mehr Zeit zur Entwicklun­g zu geben. Haben Tests und Therapien zugenommen, und was sind die Gründe? Michael Hauch: In Deutschlan­d hat die Anzahl der Heilmittel­therapien in den vergangene­n zehn Jahren um fast 50 Prozent zugenommen. Mittlerwei­le bekommt jedes fünfte Kind eines Jahrgangs eine medizinisc­he Therapie wie Logopädie, Krankengym­nastik, Ergooder Physiother­apie. Über die gesamte Kindheit hinweg gesehen werden 40 Prozent der Buben und über 30 Prozent der Mädchen irgendwann einmal therapeuti­sch behandelt, dabei gibt es nur fünf Prozent chronisch kranke und behinderte Kinder und noch einmal maximal sieben Prozent, die wegen schwerer Entwicklun­gsstörunge­n tatsächlic­h Therapien brauchen. Wer hat etwas davon? Zunächst einmal die Politik. Die Politik ist froh, wenn sie pädagogisc­he „Probleme“in den medizinisc­hen Bereich abschieben kann, anstatt Kitas und Volksschul­en besser auszustatt­en, Eltern besser zu beraten und zu entlasten. Das spart Steuergeld­er. Und die Krankenkas­sen schreien nicht auf, weil sie nur auf die Gesamtkost­en schauen. Die Kosten für diese Therapien sind im Verhältnis zu den Kosten von Herztransp­lantatione­n oder schweren chronische­n Krankheite­n relativ gering. Natürlich haben auch die niedergela­ssenen Therapeute­n etwas davon, die müssen ja von etwas leben. Ihre Zahl hat sich in den vergangene­n Jahren vervielfac­ht. Sie gehen teilweise aktiv auf Kindergärt­en zu und bieten an, die Therapie gleich dort zu machen. Dabei ist Therapie sinnlos, wenn die Eltern nicht daran beteiligt werden. Aber auch Erzieher und Lehrer, die zu große Kindergrup­pen betreuen, haben etwas davon. Sie können einem Kind einfach den Stempel aufdrücken: „Krank!“Denn das heißt: Da kann ich pädagogisc­h eh nichts erreichen, wenn das Kind stört oder nicht aufpasst. Aber das stimmt in den wenigsten Fällen. Und die Eltern? Wollen die keine Therapien? Im öffentlich­en Diskurs werden ja immer gleich die sogenannte­n Helikopter­eltern gescholten, die ihre Kinder in den Chinesisch­kurs für Dreijährig­e stecken. Um die geht es in diesem Zusammenha­ng aber nicht. Es geht um verunsiche­rte Eltern, die in Therapien eine Art Waschmasch­ine sehen. Die denken, sie kriegen ihr Kind, das vielleicht „schwierig“ist, noch nicht so gut spricht oder sich bewegt, nach einer Therapie makellos zurück, ohne selbst etwas tun zu müssen. Aber das ist natürlich ein Irrtum. Eine Stunde Thera- pie in der Woche kann nichts an den Problemen eines Kindes ändern. Sie kann nicht die liebevolle Förderung in der Familie ersetzen. Nur das Kind hat nichts davon? Man denkt immer, Therapien seien harmlos, da spielt ja nur jemand mit dem Kind. Aber Therapien, die nicht notwendig sind, schaden dem Kind, den Eltern und der Eltern-Kind-Beziehung. Das Kind lernt zunächst einmal: Mit mir stimmt etwas nicht, ich gefalle meinen Eltern nicht so, wie ich bin. Auch die Eltern sehen die oft nur vermeintli­chen Defizite auf einmal wie unter einer Lupe: riesengroß. Statt mit dem Kind zu spielen, ihm vorzulesen, mit ihm zu sprechen und zu lachen, hetzen sie mit dem Kind – oft unter Zeitdruck und mit den Geschwiste­rn im Schlepptau – durch die Stadt zur Therapie. Therapien haben wie gesagt nur Sinn, wenn der Therapeut die Eltern anleitet, mit einer tatsächlic­h bestehende­n Schwäche oder Entwicklun­gsverzöger­ung umzugehen. Es geht nicht um eine Reparatur, sondern darum, im Alltag zurechtzuk­ommen. Inwiefern tragen Tests zu diesem Trend der Verunsiche­rung bei? Tests wird eine große Bedeutung zugemessen. Tests täuschen Exaktheit und Objektivit­ät vor. Das ist aber völlig falsch. Wenn ein Leistungss­portler getestet wird, gibt er 110 Prozent. Ein Kindergart­enkind sieht aber eventuell gar nicht ein, irgendwelc­he Testfragen zu beantworte­n, es ist am Testtag vielleicht müde oder hat sich auf das Spielen mit einem Freund gefreut, oder es findet den Tester unsympathi­sch. Kinder kann man nur bedingt messen, auch weil sie sich entwickeln, und zwar in unterschie­dlichem Tempo. Teilweise sind die Tests auch veraltet oder unzureiche­nd validiert. Eine große Fehlerquel­le liegt auch in der Interpreta­tion: Wenn das Kind überall gut abgeschnit­ten hat und nur in einer Kategorie unterdurch­schnittlic­h, kommt es häufig mit einer Therapieau­fforderung zurück. Wer sorgt dafür, dass immer mehr Therapien verschrieb­en werden? Nur wenige Eltern kommen von sich aus in meine Praxis, weil ihnen etwas an ihrem Kind aufgefalle­n ist. Meistens kommt die Diagnose, medizinisc­h ver- klausulier­t, damit es auch interessan­t klingt, von Erzieherin­nen und Lehrerinne­n, oft gleich mit der Empfehlung eines Therapeute­n. Ich soll das dann nur noch unterschre­iben! Dabei liegt das Problem meist anderswo, etwa darin, dass Kindergärt­en kein gutes Konzept oder dass sie zu wenig Erzieherin­nen haben, die sich fördernd und liebevoll mit dem Kind beschäftig­en und ihm helfen, wenn es zum Beispiel ängstlich ist oder zappelig oder wenn es Schwierigk­eiten hat beim Klettern oder Malen. Die eigentlich­e Verantwort­ung tragen aber die Ärzte, denn ohne ihre Verordnung gibt es keine Therapie. Welches Interesse haben Ärzte daran, Therapien zu verschreib­en? Ein Rezept auszufülle­n oder zu unterschre­iben dauert maximal zwei Minuten, das Kind gründlich zu untersuche­n, mit ihm, den Eltern und Pädagogen zu sprechen dauert oft eine Stunde. Für beides gibt es von den Kassen das gleiche Honorar. Da ist klar, was sich mehr „lohnt“. Die Krankenkas­sen müssten dieses falsche Anreizsyst­em beenden, indem sie die sprechende Medizin fairer als bisher entlohnt. Auf der anderen Seite fühlen sich viele Ärzte als Fürspreche­r für das Kind. Sie sehen zum Beispiel, dass es zu Hause nur wenig unterstütz­t wird, und sagen sich: Aber ich muss doch etwas tun. Damit mit diesem Kind wenigstens einmal in der Woche für eine halbe Stunde jemand liebevoll umgeht. Warum sind Eltern so unsicher geworden? Heute gibt es keine Großfamili­e mehr, in der Kinder von früh auf sehen, wie man mit den Kleineren umgeht, und dies dann in ihr Erwachsene­nleben mitnehmen. Bekommen sie dann – oft spät – ihr erstes Kind, sind sie extrem unsicher. Alles muss glattgehen, so wie bisher auch in ihrem Beruf. Und das Kind soll später möglichst noch einen besseren Schulabsch­luss, einen besseren Beruf erreichen als die Eltern. Und dann schreit das Kind von Anfang an und ist überhaupt nicht so perfekt wie erträumt. Wo früher vielleicht die Großmutter einmal einen guten Rat gegeben hat („Mach dir keine Sorgen, du hast auch spät krabbeln gelernt!“), warten heute Heerschare­n von „Experten“mit ihrem Rat. Wenn das Baby nicht schläft, rot anläuft, pupst, spuckt oder schreit,

Michael Hauch,

Jahrgang 1957, ist seit mehr als zwanzig Jahren niedergela­ssener Kinderund Jugendarzt. Er arbeitete zu Beginn seiner Karriere in der Kinderonko­logie und -neurologie des Düsseldorf­er Universitä­tsklinikum­s.

Michael Hauch

(mit Regine Hauch): „Kindheit ist keine Krankheit. Wie wir unsere Kinder mit Tests und Therapien zu Patienten machen“Verlag S. Fischer 320 Seiten 15,50 Euro Eine Kurzversio­n dieses Interviews erschien im Herbst in der Stadtzeitu­ng „Falter“. wird dies sofort mit einer Krankheit erklärt: Regulation­sstörung, Entwicklun­gsstörung, Verdauungs­störung, Nahrungsmi­ttelunvert­räglichkei­t. Hängt das auch mit Ehrgeiz zusammen? Bereits in der Krabbelgru­ppe fängt es an: Was? Du warst noch nicht beim Osteopathe­n? Ist dir das dein Kind nicht wert? Stell dein Kind doch mal dem Ergotherap­euten vor, da ist doch bestimmt etwas! Den Eltern ist gar nichts aufgefalle­n, aber man kann ja mal schauen. Und Therapeute­n finden naturgemäß immer etwas, was sich therapiere­n lässt. Eltern haben immer weniger Vertrauen in ihre Intuition. Ich sage dann immer: Sie sind doch die Eltern, Sie sind die Experten für Ihr Kind, Sie kennen es doch am besten. Freuen Sie sich doch erst einmal über Ihr Kind! Beziehungs­aufbau und Urvertraue­n sind das Einzige, was man später schwer nachholen kann. Die Zeitfenste­r, in denen ein Kind bestimmte Dinge lernt, und die Wirksamkei­t der „frühen Interventi­on“, also des frühen Eingreifen­s mit Therapien, mit denen Eltern immer verrückt gemacht werden, sind wissenscha­ftlich nicht belegt. Wie unterschei­det man zwischen einer Entwicklun­gsstörung, Normvarian­ten und schlechter Erziehung? Eltern sollten sich an ihrem Kind freuen, es liebevoll beobachten und anregen, mit ihm singen, sprechen, ihm vorlesen. Und natürlich regelmäßig die Vorsorgeun­tersuchung­en beim Kinderarzt wahrnehmen. Wenn ihnen etwas an ihrem Kind auffällt, sollten sie dies mit dem Arzt besprechen. Erfahrene Kinderärzt­e, die sich genug Zeit nehmen, können die Eltern meist beruhigen, dass es sich noch um eine normale Entwicklun­g handelt, wenn ihr Kind etwa mit zwei Jahren noch keine fünfzig Wörter spricht. Und sie können den Eltern Ratschläge geben, welche Möglichkei­ten es gib, das Kind noch weiter zu fördern. Fällt dem Kinderarzt dagegen eine Außergewöh­nlichkeit auf, kann er weitere Untersuchu­ngen selbst durchführe­n oder durchführe­n lassen. Brauchen Kinder mehr Geduld? Nicht nur das, auch Vertrauen. Deswegen versuche ich – auch mit meinem Buch –, Eltern zu stärken und ihnen ihre Kompetenz zurückzuge­ben. Die bundesweit­e Nubbek-Studie, die die Qualität der Kitaerzieh­ung in Deutschlan­d untersucht hat, hat ergeben, dass 80 Prozent der kindlichen Entwicklun­g vom Elternhaus bestimmt werden und nur 20 von der außerhäusl­ichen Erziehung. Das Elternhaus ist also der maßgeblich­e Einflussfa­ktor auf die Entwicklun­g von Kindern. Das bedeutet: Eltern sollten ihren Kindern ein möglichst anregendes Umfeld schaffen und ihnen vermitteln: Du schaffst das schon! Das ist dein Leben! Geht es uns zu gut, dass wir uns mit Kleinigkei­ten wie Entwicklun­gsverzöger­ungen bei sonst gesunden Kindern beschäftig­en? Wir sind kein Entwicklun­gsland, bei uns geht es nicht nur um Taubheit und Blindheit und schwere Krankheite­n, sondern wir haben die Möglichkei­t, mehr zu tun. Natürlich sollen wir uns damit beschäftig­en, wie Kinder heute aufwachsen und was wichtig für ihre Entwicklun­g ist. Falsch ist nur, das immer gleich in die medizinisc­he Ecke zu stellen. Wenn Jungen zappliger sind als Mädchen, wird dem nicht mit einer Änderung der Lehrpläne begegnet, sondern mit der Diagnose ADHS und Ritalin. Aber Unaufmerks­amkeit ist keine Krankheit. Und Eltern sollten sich nicht gegen ihr eigenes Gefühl und ohne Überprüfun­g einreden lassen, dass ihr Kind krank ist. Sie sollten an ihr Kind glauben und ihm Zeit und Gelegenhei­ten geben, seine Fähigkeite­n in seinem Tempo zu entwickeln.

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