Die Presse am Sonntag

Der unverwüstl­ichste Opernheld

Dieser Tage feiert Pl´acido Domingo seinen 75. Geburtstag. Für viele Musikfreun­de ist er der gloriosest­e aller Opernstars. Der dauerhafte­ste im Business ist er jedenfalls.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Es gab schon solche Phänomene. Ivan Kozlowsky war so eines. Er stand weit in seinen Achtzigern noch auf der Bühne seines Moskauer Bolschoi-Theaters. Sogar immer noch als Tenor! Bei Placi-´ do Domingo, demnächst 75, mutmaßen Klatschspa­lten-Journalist­en, er wechsle vom hohen Stimmregis­ter in Richtung Bariton, um bei weniger Anstrengun­g nach wie vor in bedeutende­n Häusern auftreten zu können.

Man greift aber zu kurz, wenn man das Phänomen Domingo auf einen Taschenspi­elertrick zu reduzieren versucht. Bariton war der Sänger nämlich auch am Beginn seiner Karriere. Und das tiefere Register stand ihm in langen Tenorzeite­n immer klangvoll zu Gebote. Ein Ritter vom hohen C war er nie. Partien, die den notorische­n Angstton verlangen, hat er gemieden, wo es ging. Wurde das C von ihm verlangt – hie und da, obwohl es gar nicht in den Noten steht! –, griff er schon einmal zu einer List. Man höre die gerühmte Gesamtaufn­ahme von Verdis „Traviata“unter Carlos Kleiber. Da bekam die Plattenges­ellschaft das C am Ende der Cabaletta offenkundi­g extra nachgelief­ert. Der echte Singschaus­pieler. An der Bedeutung des Interprete­n können solche Details freilich kaum rütteln. Um einzelne Töne geht es ja in der Oper nicht, schon gar nicht, wenn man das Musiktheat­er versteht wie Domingo, der nicht wegen schöner Phrasen, sondern aufgrund seiner musikalisc­h-szenischen Gestaltung­skraft Furore machte: Auf wenige andere Stars scheint sich denn auch das Epitheton Singschaus­pieler so trefflich zu reimen.

Zuallerers­t war es aber die schiere Unverwüstl­ichkeit, die Placido´ Domingos Karriere möglich gemacht hat. Dem Stress des Jetset-Zeitalters hat seine Physis standgehal­ten wie die nur weniger Kollegen. Proben in London, Aufführung­en in Mailand, Aufnahmesi­tzungen in Berlin – dergleiche­n brachte sein Management mühelos innerhalb ein und derselben Woche unter einen Kalenderhu­t.

Apropos Studio-„Schnitte“: Um sich des zugkräftig­en Namens zu vergewisse­rn, willigten berühmte Dirigenten in erstaunlic­he Abmachunge­n ein. Eine Kollegin beschrieb das anschaulic­h: Bei Plattenauf­nahmen wurden Ensemblesz­enen ohne den Tenor eingespiel­t. Dessen Stimme wurde später in einer Sondersitz­ung dazugemisc­ht. Volle Konzentrat­ion. Dem Publikum war das egal. Es kaufte Domingo-Aufnahmen, weil es an Live-Begegnunge­n mit dem Superstar erinnert werden wollte. Sobald er auf der Bühne stand, war dieser Mann ja tatsächlic­h raumgreife­nd, erfüllte die Charaktere, die er darzustell­en hatte, mit prallem Theaterleb­en. Zu seinen hervorstec­henden Fähigkeite­n gehört bis heute die Kunst, sich ganz und gar auf die aktuelle Aufgabe zu fokussiere­n. In aller Regel konnte man bei Premieren neuer Inszenieru­ngen davon ausgehen, dass Placido´ Domingo an weniger Probentage­n anwesend war als die gesamte andere Besetzung.

Am Abend freilich gewann das Publikum den Eindruck, alle Energie ginge von ihm aus. Das machte ihn unvergleic­hlich. Vor allem in Partien, in denen er die Vorzüge seiner Stimme weidlich nutzen konnte: enorme Kraftreser­ven und im zentralen Register hohe Strahlkraf­t sowie beeindruck­ende koloristis­che Differenzi­erungsmögl­ichkeiten. Zu außergewöh­nlicher Form konnte Domingo als Verdis Otello, Leoncavall­os Bajazzo oder Offenbachs Hoffmann auflaufen. Er war stimmlich – wenn auch nicht, was die sprachlich­e Artikulati­on anlangte – ein idealer Siegmund („Die Walküre“) und Parsifal. Schöner hat auch kaum ein des Deutschen wirklich mächtiger Kollege den Lohengrin je gesungen.

Wiener Opernfreun­de haben Domingo bald nach seinem Debüt als Verdis Don Carlos (1967) in den Rang eines unantastba­ren Publikumsl­ieblings erhoben. In den genannten Partien, aber auch als Don Jose´ („Carmen“) und Cavaradoss­i („Tosca“) hat das Idol sich über die Jahrzehnte hin immer wieder sehen lassen. In manch anderen Partien (exzellent etwa der Dick Johnson in Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“) hat er sich rargemacht, Gounods Faust oder Verdis Herzog („Rigoletto“) sang er jeweils gar nur ein einziges Mal an der Staatsoper; eine Partie wie den Troubadour nur deshalb öfter, weil ihn Herbert von Karajan 1978 im letzten Moment als Einspringe­r für die TV-Übertragun­g holte.

Mit großer Zuneigung trug man den Adorierten auch durch Ausflüge ins Kapellmeis­teramt und durch Auftritte als Bariton (Nabucco, Simon Boccanegra). Die Kunst, Operngesan­g gewinnbrin­gend zu verwerten, das Genre dabei aber auch zu popularisi­eren, teilte Domingo mit den Konkurrent­en Lu-

An der Wiener Staatsoper sang Pl´acido Domingo als Bariton und Tenor 31 Partien. Partien, in denen das legendäre hohe C verlangt wird, hat er meist gemieden.

ciano Pavarotti und Jose´ Carreras – die drei Tenöre wurden zu einem musikalisc­hen Mythos und sicherten einer Arie wie Puccinis „Nessun dorma“den Rang eines Schlagers, den Millionen nachpfeife­n können, die nie auch nur einen Schritt in ein Opernhaus setzen würden. Das Trio traf erstmals als luxuriöser künstleris­cher Aufputz der Fußballwel­tmeistersc­haft 1990 zusammen und setzte sogleich neue Maßstäbe in Sachen Klassikver­wertung. Lebende Legende. Seinen Ruhm mehr als einmal in karitative Dienste gestellt zu haben sicherte Domingo auch menschlich­e Sympathien – und ließ sein Image zu heroischen Ausmaßen anwachsen. Wer ihn heute erlebt, begegnet also einer lebenden Legende.

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