Der unverwüstlichste Opernheld
Dieser Tage feiert Pl´acido Domingo seinen 75. Geburtstag. Für viele Musikfreunde ist er der glorioseste aller Opernstars. Der dauerhafteste im Business ist er jedenfalls.
Es gab schon solche Phänomene. Ivan Kozlowsky war so eines. Er stand weit in seinen Achtzigern noch auf der Bühne seines Moskauer Bolschoi-Theaters. Sogar immer noch als Tenor! Bei Placi-´ do Domingo, demnächst 75, mutmaßen Klatschspalten-Journalisten, er wechsle vom hohen Stimmregister in Richtung Bariton, um bei weniger Anstrengung nach wie vor in bedeutenden Häusern auftreten zu können.
Man greift aber zu kurz, wenn man das Phänomen Domingo auf einen Taschenspielertrick zu reduzieren versucht. Bariton war der Sänger nämlich auch am Beginn seiner Karriere. Und das tiefere Register stand ihm in langen Tenorzeiten immer klangvoll zu Gebote. Ein Ritter vom hohen C war er nie. Partien, die den notorischen Angstton verlangen, hat er gemieden, wo es ging. Wurde das C von ihm verlangt – hie und da, obwohl es gar nicht in den Noten steht! –, griff er schon einmal zu einer List. Man höre die gerühmte Gesamtaufnahme von Verdis „Traviata“unter Carlos Kleiber. Da bekam die Plattengesellschaft das C am Ende der Cabaletta offenkundig extra nachgeliefert. Der echte Singschauspieler. An der Bedeutung des Interpreten können solche Details freilich kaum rütteln. Um einzelne Töne geht es ja in der Oper nicht, schon gar nicht, wenn man das Musiktheater versteht wie Domingo, der nicht wegen schöner Phrasen, sondern aufgrund seiner musikalisch-szenischen Gestaltungskraft Furore machte: Auf wenige andere Stars scheint sich denn auch das Epitheton Singschauspieler so trefflich zu reimen.
Zuallererst war es aber die schiere Unverwüstlichkeit, die Placido´ Domingos Karriere möglich gemacht hat. Dem Stress des Jetset-Zeitalters hat seine Physis standgehalten wie die nur weniger Kollegen. Proben in London, Aufführungen in Mailand, Aufnahmesitzungen in Berlin – dergleichen brachte sein Management mühelos innerhalb ein und derselben Woche unter einen Kalenderhut.
Apropos Studio-„Schnitte“: Um sich des zugkräftigen Namens zu vergewissern, willigten berühmte Dirigenten in erstaunliche Abmachungen ein. Eine Kollegin beschrieb das anschaulich: Bei Plattenaufnahmen wurden Ensembleszenen ohne den Tenor eingespielt. Dessen Stimme wurde später in einer Sondersitzung dazugemischt. Volle Konzentration. Dem Publikum war das egal. Es kaufte Domingo-Aufnahmen, weil es an Live-Begegnungen mit dem Superstar erinnert werden wollte. Sobald er auf der Bühne stand, war dieser Mann ja tatsächlich raumgreifend, erfüllte die Charaktere, die er darzustellen hatte, mit prallem Theaterleben. Zu seinen hervorstechenden Fähigkeiten gehört bis heute die Kunst, sich ganz und gar auf die aktuelle Aufgabe zu fokussieren. In aller Regel konnte man bei Premieren neuer Inszenierungen davon ausgehen, dass Placido´ Domingo an weniger Probentagen anwesend war als die gesamte andere Besetzung.
Am Abend freilich gewann das Publikum den Eindruck, alle Energie ginge von ihm aus. Das machte ihn unvergleichlich. Vor allem in Partien, in denen er die Vorzüge seiner Stimme weidlich nutzen konnte: enorme Kraftreserven und im zentralen Register hohe Strahlkraft sowie beeindruckende koloristische Differenzierungsmöglichkeiten. Zu außergewöhnlicher Form konnte Domingo als Verdis Otello, Leoncavallos Bajazzo oder Offenbachs Hoffmann auflaufen. Er war stimmlich – wenn auch nicht, was die sprachliche Artikulation anlangte – ein idealer Siegmund („Die Walküre“) und Parsifal. Schöner hat auch kaum ein des Deutschen wirklich mächtiger Kollege den Lohengrin je gesungen.
Wiener Opernfreunde haben Domingo bald nach seinem Debüt als Verdis Don Carlos (1967) in den Rang eines unantastbaren Publikumslieblings erhoben. In den genannten Partien, aber auch als Don Jose´ („Carmen“) und Cavaradossi („Tosca“) hat das Idol sich über die Jahrzehnte hin immer wieder sehen lassen. In manch anderen Partien (exzellent etwa der Dick Johnson in Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“) hat er sich rargemacht, Gounods Faust oder Verdis Herzog („Rigoletto“) sang er jeweils gar nur ein einziges Mal an der Staatsoper; eine Partie wie den Troubadour nur deshalb öfter, weil ihn Herbert von Karajan 1978 im letzten Moment als Einspringer für die TV-Übertragung holte.
Mit großer Zuneigung trug man den Adorierten auch durch Ausflüge ins Kapellmeisteramt und durch Auftritte als Bariton (Nabucco, Simon Boccanegra). Die Kunst, Operngesang gewinnbringend zu verwerten, das Genre dabei aber auch zu popularisieren, teilte Domingo mit den Konkurrenten Lu-
An der Wiener Staatsoper sang Pl´acido Domingo als Bariton und Tenor 31 Partien. Partien, in denen das legendäre hohe C verlangt wird, hat er meist gemieden.
ciano Pavarotti und Jose´ Carreras – die drei Tenöre wurden zu einem musikalischen Mythos und sicherten einer Arie wie Puccinis „Nessun dorma“den Rang eines Schlagers, den Millionen nachpfeifen können, die nie auch nur einen Schritt in ein Opernhaus setzen würden. Das Trio traf erstmals als luxuriöser künstlerischer Aufputz der Fußballweltmeisterschaft 1990 zusammen und setzte sogleich neue Maßstäbe in Sachen Klassikverwertung. Lebende Legende. Seinen Ruhm mehr als einmal in karitative Dienste gestellt zu haben sicherte Domingo auch menschliche Sympathien – und ließ sein Image zu heroischen Ausmaßen anwachsen. Wer ihn heute erlebt, begegnet also einer lebenden Legende.