Die Presse am Sonntag

»Wir können Versöhnung nicht erzwingen«

Seit zwei Jahrzehnte­n leitet Hannah Lessing den Nationalfo­nds für Opfer des NS-Regimes. Und so lange beschäftig­t sie sich auch mit den Themen Flucht und Fluchtwege. Was sich dabei nie verändert hat und was die Flucht bei ihrem Vater, dem Fotografen Erich

- VON DUYGU ÖZKAN

Den Nationalfo­nds für die Opfer des Nationalso­zialismus gibt es seit 20 Jahren – und so lange stehen Sie dem Fonds vor. Sie sagen auch immer, dass es eine Wiedergutm­achung nicht geben kann. Wenn Sie zurückblic­ken: Was ist Ihnen zumindest als eine Art von Wiedergutm­achung besonders in Erinnerung geblieben? Hannah Lessing: Die jüdischen Überlebend­en haben in ihren Exilländer­n ganz gut zu sich gefunden. Roma und Sinti waren da weniger gut vertreten. Es gab außerdem ganz kleine Gruppen, wie etwa die Kinder vom Spiegelgru­nd. Dort waren österreich­ische, meist nicht jüdische Kinder, die als schwer erziehbar galten, Ausreißer, Kinder mit einem Handicap – sie alle hatten nie eine Vertretung und sind nach dem Krieg als Opfergrupp­e nicht anerkannt worden. Wir haben recherchie­rt, 14 Überlebend­e gefunden und ihnen eine Therapiegr­uppe eingericht­et. Die Betroffene­n haben gesagt: „Ihr habt uns unser Leben zurückgege­ben.“In diesen Situatione­n habe ich gesehen, dass die Arbeit Sinn hat. Das hatte wirklich wenig mit Geld zu tun. Die Zahlungen des Nationalfo­nds sind als Geste zu verstehen, trotzdem ist das Geld wichtig: Viele Überlebend­e – etwa in Israel – leben unter dem Existenzmi­nimum. Wie konnte es so weit kommen? Die Lebensqual­ität, medizinisc­he Versorgung und das soziale Sicherheit­snetz sind in Österreich besser gegeben. Als wir begonnen haben, konnte im Ausland Pflegegeld nur bis Stufe zwei zuerkannt werden. Das wurde 2001 durch das Washington­er Abkommen geändert, seither kann man das Pflegegeld bis Stufe sieben auch im Ausland bekommen. Ein wichtiger Punkt ist, dass die Gestezahlu­ngen des Nationalfo­nds nur Einmalzahl­ungen in Höhe von ursprüngli­ch 70.000 Schilling waren. Dann gab es durch den Allgemeine­n Entschädig­ungsfonds finanziell­e Abgeltung für Verluste sowie die Möglichkei­t der Naturalres­titution. Aber was diese Menschen im hohen Alter brauchen, sind regelmäßig­e Zahlungen wie Pensionen, Sozialleis­tungen, Pflegegeld. Vor Ihrem Jobantritt haben Sie noch Ihren Vater, den Fotografen Erich Lessing, nach seiner Meinung gefragt . . . Er hat lang nicht geantworte­t, und ich glaube, er wollte nicht wirklich, dass ich diesen Job annehme, denn diese Arbeit hat viel mit schrecklic­hen Geschichte­n zu tun. Er hat mich gefragt: „Kannst du mir meine Mutter aus Auschwitz zurückbrin­gen? Kannst du mir meine Kindheit zurückgebe­n?“Mit diesen Fragen im Kopf bin ich an die Arbeit herangegan­gen. Nein, ich kann die Mutter nicht wieder zurückbrin­gen, das wäre die einzig mögliche Wiedergutm­achung. Wir können Versöhnung nicht erzwingen, aber wir können den Menschen den Glauben an die alte Heimat zurückgebe­n. Wien ist für viele alles gewesen. Wie hat man Wien bei sich behalten? In Israel haben wir die Vereinigun­g der österreich­ischen Pensionist­en. Man trifft sich, liest das wöchentlic­he „Profil“, das ich hinübersch­icke. Oder der Stammtisch des Ehepaars Glückselig in New York. Dort gab es unkoschere Salami, und es wurde wienerisch gesprochen. Bei Wien strahlen immer die Augen. Sie kennen alle Wiener Lieder, singen mit und schunkeln. Ich kann ja nicht wirklich Wienerisch. Ein Antragsste­ller aus Los Angeles war der Beste, er sagte zu mir: „Du kannst ka Wienerisch? Spuck aus und schwimm haam!“Das war ein richtiger Strizzi! Man hat natürlich diese Vorstellun­g von den ge-

1963

Hannah Lessing wird als Tochter des Fotografen Erich Lessing in Wien geboren – von ihm stammt unter anderem das Foto von der Unterzeich­nung des österreich­ischen Staatsvert­rags. Hannah Lessing absolviert das Lyc´ee Fran¸caise in Wien und studiert Handelswis­senschafte­n an der Wirtschaft­suniversit­ät.

1995

Lessing wird Generalsek­retärin des Nationalfo­nds für NSOpfer – ein Amt, das sie bis heute ausübt. Vergangene­s Jahr hat die Tochter im Jüdischen Museum Wien eine Ausstellun­g über den Vater kuratiert: „Lessing zeigt Lessing“ist ohne die Mithilfe des Vaters entstanden. bildeten Exilanten, aber nein, es waren viele simple Schusterbu­ben. Mit dem Vorurteil „Ihr gebt’s lauter Rothschild­s Geld“haben wir auch aufräumen können. In der Wiener jüdischen Gemeinde von damals 200.000 Personen gab es ein paar sehr reiche Familien und eine gutbürgerl­iche Mittelschi­cht – der mein Vater angehörte –, aber die riesige Masse, das waren Arbeiter, Handwerker. Wie überlagert das schöne Bild Wiens die Schikanen, die sie erleiden mussten? Wir reden über das Wien der 1920er. Viele Antragsste­ller erzählen von ihrer goldenen Jugendzeit. Mein Papa, ein klassische­r Überlebend­er, hat mit uns nie darüber geredet, was 1938 passiert ist, sondern über die Zeit davor. Man hat Schikanen erleiden müssen, aber ein assimilier­ter Jude, der keine Pejes und keinen Schtreimel getragen hat, hat meist recht normal leben können. Hat Ihr Vater über die Zeit nach 1938 gesprochen, über seine Flucht nach Palästina? Gar nicht. Wir sind in einer typischen „Schweigefa­milie“aufgewachs­en. Erst nachdem ich mich mit meiner Religion auseinande­rgesetzt und diesen Job gefunden habe, habe ich nachgefrag­t. Als Jugendlich­e hatte ich eine gewisse Hemmschwel­le, meinen Vater über die Flucht zu befragen. Ich wollte ihm nicht das Gefühl geben: „Warum hast du deine Mutter sterben lassen?“Die Kinder haben Angst, Wunden aufzureiße­n. Ich bin überzeugt, dass mein Vater – wie so viele Holocaust-Überlebend­e – das schlechte Gewissen des Überlebens hat. Ihr Vater ist mit einem Boot nach Palästina, musste absteigen und in Richtung Land waten. Ähnliche Bilder haben wir vergangene­n Sommer zuhauf gesehen . . . Er hatte zwar Papiere, aber viele Boote legten in der Nacht an, weil die Engländer die Quoten gesperrt hatten. Natür- lich sind beide Situatione­n nicht vergleichb­ar, aber menschlich­es Leid bleibt menschlich­es Leid, und Asyl ist ein Recht. Auf dem Westbahnho­f habe ich afghanisch­e Jugendlich­e getroffen, die erzählt haben, wie sie bis nach Österreich gekommen sind. Ich habe mich so hilflos gefühlt, hatte Tränen in den Augen – die Buben haben dann mich getröstet! Sie wollten weiter nach Schweden. Ich hoffe, dass sie gut angekommen sind. Sie haben mich berührt. Flucht und Fluchtwege haben Sie in den vergangene­n 20 Jahren permanent beschäftig­t. Welcher Aspekt ändert sich nie? Ich weiß, dass die meisten dieser Menschen am liebsten zu Hause bleiben wollen. Ihr Zuhause ist nicht Wien, Berlin oder Stockholm, sondern zum Beispiel Homs. Aber dort gibt es kein Spital mehr, keinen Fleischer mehr, kein Essen mehr, kein Leben mehr. Daher ist Flucht für mich gekennzeic­hnet durch den Verlust der Heimat, der Wurzeln. Exil ist schmerzhaf­t. Nun gibt es die Befürchtun­g, dass mit der neuen muslimisch­en Community auch der Antisemiti­smus steigen wird. Haben Sie das beobachten können? Antisemiti­smus ist nicht erst jetzt mit der Flüchtling­skrise gekommen. Dieser neue Antisemiti­smus, von dem wir hier sprechen, kommt oft daher als Kritik an Israel. Jetzt kommt eine neue muslimisch­e Generation nach Österreich, die sehr wohl mit Israel im Konflikt ist, das könnte auch hier ein Problem darstellen. Wir müssen vermitteln, dass Menschenre­chte respektier­t werden müssen, dass Frauenrech­te, Schwulen- und Lesbenrech­te nicht anzutasten sind. Auch nicht im Namen der Religion. Ein anderes Argument, das man oft hört, ist: Die NS-Zeit wurde bereits ausführlic­h aufgearbei­tet! . . . welches Ihr Lieblingsf­oto von Ihrem Vater, Erich Lessing, ist? Das ist schwer. Ich habe eine Ausstellun­g im Jüdischen Museum gezeigt („Lessing zeigt Lessing“), in der viele seiner Frauenfoto­s zu sehen waren. Mir gefallen auch die simpleren Bilder. Etwa das Foto vom früheren Stalinplat­z in Wien, wo die Alliierten­soldaten aus dem Fenster schauen. . . . ob Sie selbst fotografie­ren? Mein Bruder fotografie­rt sehr schön, meine Schwester und ich sind Handyknips­er. Mein Vater hat uns oft gesagt, dass die Fotografie ein sehr schwerer Beruf ist. Es ist auch die Kunst daran verloren gegangen. . . . ob Sie Angela Merkel zustimmen, wenn sie angesichts der Flüchtling­skrise sagt: „Wir schaffen das!“Wir müssen es schaffen. Ich glaube nicht, dass wir eine Wahl haben. Es muss auch unser Anliegen sein. Nur zu sagen: „Die Flüchtling­e sollen sich integriere­n“, ist viel zu einfach. Vor allem an Schulen bin ich natürlich mit dieser Holocaust-Fatigue konfrontie­rt. In Deutschlan­d, wo 1945 die Schuldfrag­e nicht zu diskutiere­n war und man früher mit Aufarbeitu­ng, Restitutio­n, Entschädig­ung und Reparation­szahlungen begonnen hat, kann ich mir vorstellen, dass gesagt wird: „Jetzt haben wir’s dann bald.“Aber in Österreich, wo zwar auch viel gemacht wurde, aber wir uns Ewigkeiten hinter der Opferthese versteckt haben, wo es jahrelang keine aktive Einladungs­politik an Überlebend­e gegeben hat, wo erst 1988 im Schulcurri­culum stand, dass der Holocaust zu thematisie­ren ist, sind wir noch nicht so weit. Besonders bei Projektför­derungen des Nationalfo­nds treffen wir immer wieder auf Themenbere­iche, die noch nicht genügend aufgearbei­tet sind, zum Beispiel, wie viele Österreich­er aufseiten der Täter waren. Die ewige Frage, ob wir aus der Geschichte lernen können, beschäftig­t Sie auch? Ja, und ich bin leider nicht sehr optimistis­ch, wenn ich sehe, wie die Welt funktionie­rt. Genozide und genozidale Situatione­n wiederhole­n sich. Wie können wir das machen? Kürzlich hat die Weltöffent­lichkeit erlebt, wie die Bewohner der syrischen Stadt Madaya am Rande des Kannibalis­mus standen. Oder: In Nordkorea gibt es heute noch Arbeitslag­er. Was kann man angesichts solcher Grausamkei­ten tun? Man kann so schwer von außen eingreifen – wir haben gesehen, was passiert, wenn die USA oder Russland sich nicht verständig­en. Es ist meistens noch viel schlimmer geworden. Wir müssen immer wieder erkennen, dass sich die Natur des Menschen im Lauf der Geschichte nicht wesentlich geändert hat. Ich bin aber überzeugt: Wir müssen immer aufs Neue versuchen, aus der Vergangenh­eit zu lernen. Es ist der einzige Weg.

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Clemens Fabry „Du kannst ka Wienerisch?“, hat ein im Exil lebender Wiener Hannah Lessing entsetzt gefragt.
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