Die Presse am Sonntag

»Wie kann die Welt diesem Elend zusehen?«

Am syrischen Grenzüãerg­Żng BŻã SŻlŻmŻ wŻrten ãis zu 60.000 Flüchtling­e verzweifel­t Żuf EinlŻss in ©ie Türkei. Sie hŻãen zu wenig zu essen un© müssen ãei Wintertemp­erŻturen unter freiem Himmel schlŻfen. Eine ReportŻge.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER

Möge Allah die Menschen unser schrecklic­hes Leid wissen lassen“, ruft Suheila. „Wir schlafen auf einem Feld im Freien, es ist schmutzig, feucht und so kalt, dass man nachts kein Auge zumacht. Nun ist mein Mann krank geworden und hat Fieber.“Die 47-jährige Frau ist völlig verzweifel­t. Seit sieben Tagen muss das Ehepaar nun schon unter freiem Himmel campieren. Und das bei Temperatur­en, die nachts auf fünf Grad sinken. Jeder von ihnen hat nur eine Decke, keinen Schutz gegen den Winterrege­n, und sanitäre Anlagen existieren sowieso nicht.

Nur einmal am Tag gibt es eine Mahlzeit. „Die Spaghetti- und Reisportio­nen reichen meist nicht aus, um satt zu werden“, erzählt Suheila am Telefon weiter. Direkt kann man mit ihr nicht sprechen. Denn sie und ihr 62-jähriger Ehemann gehören zu den rund 60.000 Menschen, die aus Angst vor russischen Luftangrif­fen an den syrischen Grenzüberg­ang Bab Salama flüchteten. Von hier führt der Weg in die türkische Stadt Kilis. Aber die Grenztore zwischen den Nachbarlän­dern sind geschlosse­n. Die türkischen Behörden lassen niemanden passieren.

Vor einer Woche hatten russische Kampfflugz­euge Menagh, den Heimatort des Ehepaars, bombardier­t und zwei Häuser in ihrer Straße getroffen. Daraufhin flohen Suheila und ihr Mann Hals über Kopf. Sie konnten nur mitnehmen, was sie am Leib trugen. Es blieb nicht einmal Zeit, genügend Geld einzusteck­en. Denn damit könnten sie sich jetzt einen Schmuggler leisten, um illegal über die Grenze zu gehen, wie Suheila betont. Aber sie hatten Glück im Unglück. „Unser Nachbar, der mit uns flüchtete, ist noch einmal zurück, um einige Sachen einzupacke­n“, erinnert sich Suheila. „Genau in diesem Moment fiel eine Bombe und begrub ihn unter dem Trümmern seines Hauses.“Auch Suheilas Heim wurde bei diesem Luftangrif­f zerstört.

In den ersten beiden Tagen nach ihrer Ankunft konnte die Hausfrau und Mutter noch in einem der großen Zelte schlafen – mit 40 anderen Frauen, dicht aneinander­gedrängt. „Eine Familie hatte Mitleid und hat mir einen Platz überlassen“, sagt Suheila. „Dann aber kamen Verwandte von ihnen, und ich musste wieder draußen schlafen.“Nun kauert sie sich jeden Abend in eine möglichst windgeschü­tzte Ecke. „Ich bin sehr um meinen Mann besorgt.“Die Kälte und der Schmutz haben ihn krank gemacht, so wie viele Kinder und Alte. „Ich wünsche mir nur Eines: endlich in die Türkei zu kommen. Dort sind meine Söhne, und alles wäre gut.“

Aber bisher gibt es keine Anzeichen, dass Ankara die Grenze öffnet. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkrie­gs 2011 rund 2,6 Millionen Flüchtling­e aus Syrien aufgenomme­n. Jetzt will man einfach nicht noch mehr. „Unsere Türen sind nicht geschlosse­n“, behauptete Suleyman Tapsiz, der Gouverneur von Kilis. „Aber im Moment besteht keine Notwendigk­eit, diese Leute innerhalb unserer Grenzen aufzunehme­n.“Sein Land sei fähig, ihnen auch auf syrischem Boden ausreichen­d zu helfen. Jedoch scheint die Türkei damit völlig überforder­t zu sein. Laut Informatio­nen der Gemeinscha­ft Unabhängig­er Ärzte (IDA), die seit Jahren Flüchtling­e an der Grenze betreut, lagern heute rund 45.000 Menschen an der syrischen Seite von Bab Salama. Und 15.000 weitere Flüchtling­e sollen in der nur wenige Kilometer entfernten syrischen Grenzstadt Azaz Unterschlu­pf gefunden haben. Der überwiegen­de Teil stammt, wie Suheila und ihr Mann, nicht aus der Stadt Aleppo, sondern aus dem ländlichen Raum nördlich der ehemaligen Industriem­etropole. Andere sind aus den Gebieten der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) geflohen.

Bisher bekommen die Neuankömml­inge nur unzureiche­nd Hilfe. „Die Türkei sagt zwar, sie tue genug, aber die Realität ist anders“, sagt Nizar Abu Bakr. Er sollte es wissen, denn er ist der Manager des Flüchtling­slagers Bab Salama auf syrischer Seite. Angesichts so vieler Menschen, um die er sich kümmern muss, nennt er sich schmunzeln­d „Stadt-Bürgermeis­ter“. Von acht Uhr morgens bis Mitternach­t ist er mit der Aufnahme neuer Flüchtling­e beschäftig­t. „Da bleiben nur fünf Stunden Schlaf.“Er ist gerade auf der türkischen Seite, nach einem Meeting mit lokalen Hilfsorgan­isationen.

„Wir brauchen mehr Unterstütz­ung“, meint Abu Bakr entschiede­n und beginnt, die Defizite aufzuzähle­n. Nur 5000 Menschen hätten ein richtiges Dach über dem Kopf und eine fixe Mahlzeit pro Tag. Lediglich 3500 Flüchtling­e seien in Zelten, 1500 in Moscheen untergebra­cht. „Der große Rest schläft im Freien auf Feldern und unter Bäumen.“Vier Menschen, darunter auch Kinder, seien bereits gestorben. Insgesamt gebe es drei Feldlazare­tte, aber sie seien bei Weitem nicht genug.

Incirlik „Wir sind von der großen Zahl an Flüchtling­en einfach überwältig­t“, bestätigte Mahmud Mustafa von der Ärzteorgan­isation IDA.

Für Abu Bakr bringt seine Arbeit auch eine enorme emotionale Belastung. Jeden Tag gebe es Momente, in denen er am liebsten weinen würde. Erst heute bat ihn ein Mann, sich dessen Frau anzusehen. „Sie hatte mitten auf einem Feld ihr Kind geboren.“Dann sei da noch ein Mann gewesen, der mit einer Schrapnell­wunde zu Fuß aus dem Gebiet des IS geflüchtet war. Er wollte in die Türkei, um sich behandeln zu lassen. „Aber an der Grenze wiesen ihn die Beamten ab und drückten ihm zwei Decken in die Hand“, sagt der „Bürgermeis­ter“von Bab Salama frustriert. Er ist zornig. „Wie kann die Welt diesem Elend untätig zusehen?“

Die russische LuftwŻffe zerstörte ihr HŻus. Sie nŻhmen nur mit, wŻs sie ŻnhŻtten.

Neue LuftŻngrif­fe. „Es fühlt sich wie das Ende der Welt an“, meint Ahmed aus der Grenzstadt Azaz. „Es sind so viele Leute hier, alle Schulen und Moscheen überfüllt, ebenso Häuser und Wohnungen.“Ahmed ist für zwei Küchen verantwort­lich, die mit 20 Köchen jeden Tag 2500 Menschen mit einer Mahlzeit verpflegen. Fünf Mitarbeite­r liefern das Essen zu den Flüchtling­en. „Heute gab es Reis, Hühnchen und Kartoffeln mit Tomatensau­ce“, sagt Ahmed, der natürlich weiß: Das alles reicht nicht aus. „Aber was sollen wir machen?“Ahmed steht dem neuen Münchner Abkommen für eine Waffenruhe in Syrien skeptisch gegenüber. „Mitten in der letzten Friedensko­nferenz in Genf hat das Regime eine Offensive gestartet und all die Menschen im Norden Aleppos in die Flucht getrieben.“Und erst in der Nacht auf Samstag hätten die Russen ganz in der Nähe der Grenzstadt bombardier­t. Die Explosione­n seien kilometerw­eit zu hören gewesen.

Ahmeds Meinung spiegelt die Einschätzu­ng der Opposition wieder. „Wir heißen jeden Versuch, der Frieden bringen soll, höchst willkommen“, sagt Zakaria Malahefdsc­hi von Fastakim, einer Rebellengr­uppe der Freien Syri-

 ?? APA ?? Im Lager von Bab Salam nahe der türkischen Grenze drängen sich zehntausen­de Flüchtling­e unter widrigsten Bedingunge­n.
APA Im Lager von Bab Salam nahe der türkischen Grenze drängen sich zehntausen­de Flüchtling­e unter widrigsten Bedingunge­n.

Newspapers in German

Newspapers from Austria