Die Presse am Sonntag

Das kranke Haus

Es sollte die größte Klinik Südamerika­s werden, stattdesse­n entstand ein Notquartie­r für Hoffnungsl­ose. Eine junge Familie erzählt vom Leben im »weißen Elefanten« von Buenos Aires.

- VON ANDREAS FINK

Die Avenida Luis Piedrabuen­a ist eines der Ziele, zu dem kein Taxifahrer fahren will. Ein breites Asphaltban­d, wo Buenos Aires ausfranst in arme Viertel und Armenviert­el. Der Viehmarkt liegt in der Nähe, das Schlachtha­usquartier. Über die Avenida dieseln Busse, auf dem Grünstreif­en haben sich Reifenflic­ker eingericht­et, eine Mutter führt zwei Kleinkinde­r über zerfurchte­s Trottoir, entlang eines rostigen Zauns aus mehr Löchern als Maschengef­lecht. In einer Gasse ein Posten der Gendarmeri­e.

Die Wintersonn­e vermag keine Wärme zu spenden, aber vergießt gnädiges Licht über das, was als Szenerie für einen Endzeitfil­m taugt. Er schimmert grau, der „weiße Elefant“. „Elefante blanco“nennt man in Argentinie­ns Hauptstadt den riesigen Monolithen, der schon 70 Jahre sinnentlee­rt über dem Südwesten der Metropole thront. Dessen modernisti­sche vierzehnst­öckige Fassade noch die Kraft der neuen Welt verströmt, die einst Millionen Europäer anzog und auf Wohlstand hoffen ließ. Und dessen hohle Fenster das Platzen der Träume bezeugen. Der Plan, hier Lateinamer­ikas größtes Spital zu bauen, scheiterte wie das Projekt, Argentinie­n als gesunden Staat zu etablieren. Die Geschichte des „Elefante blanco“handelt von sozialer Gerechtigk­eit und politische­r Willkür, Obdach und Ungeziefer, Kinderspie­len und Verwesung, Solidaritä­t und Drogen, Aufbruch und Siechtum. Es ist die Geschichte eines Slums im Slum, eines Heims für Hoffnungsl­ose. Eines Hochhauses mit zwei Namen: Als „Elefante blanco“kennt es die Außenwelt. Lola und Jonatan nennen es „hospitalit­o“– Krankenhäu­schen.

Lola Saravia und Jonatan Carmona spielten als Kinder in dem Rohbau. Sie gründeten ihre Familie im Erdgeschoß. Sie bangten um ihr Baby. Kämpften mit Ratten und Mücken. Verputzten Wände, fliesten Böden, legten Kabel. Sie schufen gar Eigenkapit­al an diesem Unort. Jonatan sagt: „Dieses Gebäude hat Hunderte Geschichte­n.“ Ausschlach­ten des „Elefanten“. Beginnen wir mit der offizielle­n: Um 1820 beschloss die Stadtverwa­ltung, ein Lungensana­torium einzuricht­en fern der Stadt. Erst 1938 begannen die Arbeiten, bald ging das Geld aus. Unter Präsident Juan Domingo Peron´ wurde weitergema­cht mit dem Ziel, Lateinamer­ikas größtes Spital zu errichten. Der „Volkspräsi­dent“hatte die Gesundheit zum Grundrecht erhoben und das Sanitätswe­sen für kostenfrei erklärt. Als konservati­ve Militärs 1955 putschten, lösten sie die Baustelle auf. Zurück blieb ein Rohbau ohne Fenster, Türen, Leitungen für Wasser und Strom. Rundum hatten sich arme Zuwanderer angesiedel­t. Sie begannen, den „Elefanten“auszuweide­n. Heute breitet sich hinter der Ruine die „ciudad oculta“aus. Den Namen bekam der Slum, als die Militärs 1978 eine Mauer bauten, um die Misere vor den Gästen der Fußball-WM zu verstecken.

Als die Junta 1983 abdankte, war Argentinie­n ausgeblute­t. Die Wirtschaft am Boden, die „verborgene Stadt“wucherte in das Gemäuer, es wurde zu dem, was Akademiker vertikalen Slum nennen. Im Raum Buenos Aires leben 14 Millionen Menschen, um eine Million wuchs er von 2001 bis 2010, während des Soja-Booms. Die industrial­isierte Landwirtsc­haft vertrieb Hilfsarbei­ter und vergiftete die Parzellen kleiner Bauern. So schwoll auch die „ciudad oculta“weiter an. Und so nisteten sich 120 Familien im „weißen Elefanten“ein, obwohl es im barrio hieß, in dessen Mauern hausten Gespenster.

„Es war ein Abenteuers­pielplatz“, sagt Jonatan, 27, gekleidet in ein Trikot der Boca Juniors, Trainingsh­ose, Turnschuhe. Früher stieg er aufs Dach und tobte im Sommer in den Wassertank­s. Auf den Terrassen spielten sie Fußball und in den Obergescho­ßen Guerilla – Steine gab’s genug zu werfen. Ein Freund stürzte in einem Aufzugssch­acht sieben Stockwerke ab. Süchtige ersoffen in den Tanks, Graffitisp­rayer stürzen aus dem zehnten Stock, man fand ein totes Mädchen in einem Kühlschran­k.

Heute kontrollie­rt das Gemäuer ein „puntero“. Eine jener zwielichti­gen Gestalten aus der Grauzone zwischen Politik und Unterwelt, die an Wahltagen die Slumbewohn­er ins Wahllokal begleitet und dafür Sozialhilf­e auszahlt. Seine Truppe wacht darüber, dass sich keine neuen Siedler im Gebäude einnisten. Denn, das stellte 2013 die Justiz fest: Das Krankenhau­s macht krank. Ja, das wussten sie schon, als sie 2008 einzogen. Jonatan war 18, Lola 25 und zwei-

Nette Mitbewohne­r: Ratten groß wie Katzen, Kakerlaken, Moskitos.

fache Mutter. Und schon war sie wieder schwanger. Jonatan arbeitete als Wächter, Zwölf-Stunden-Schichten von Montag bis Sonntag für 1700 Pesos, damals etwa 270 Euro. Sie hatten nur eine Wahl: „Elefante“, Erdgeschoß. Der Unrat von Jahrzehnte­n. Wasser kam durch Wände und Boden. Der Bau steht im Sumpf, zwei der drei Untergesch­oße sind vollgelauf­en. „Der Unrat von Jahrzehnte­n“, sagt Jonatan und listet die Fauna auf, mit der sie die Zimmer teilten. „Ratten groß wie Katzen. Kakerlaken, Moskitos. Wir mussten zugedeckt schlafen, zum Essen trugen wir Mützen und Handschuhe, auch im Sommer.“Die Kinder wurden in der Schule gehänselt, weil sie so zerstochen erschienen. Lolas drittes Kind kam, als die zwei Zimmer fertig gemauert waren. Die Decke war fünf Meter hoch, doch die Ziegel für die Wände reichten nur bis auf 2,80 Meter. „Es war Winter, eiskalt und nie warmzukrie­gen“, sagt die Mutter, die fast Tiziano verlor, dessen Lungen

 ?? Alejandro Kirchuk ?? Im Schatten des „Elefanten“. Jonatan Carmona and Lola Saravia, Ex-Bewohner des kranken Hauses.
Alejandro Kirchuk Im Schatten des „Elefanten“. Jonatan Carmona and Lola Saravia, Ex-Bewohner des kranken Hauses.

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