Die Presse am Sonntag

»Manchmal muss man die Lackschuhe

MACHT Heinz Fischer erklärt, welchen Preis die Macht hat, dass ihm Obergrenze­n für Flüchtling­e Unbehagen bereiten, Merkels Kritik an Österreich unschlüssi­g ist und er dem EU-Türkei-Deal eine Umsetzungs­chance von 35 bis 50 Prozent gibt.

- VON RAINER NOWAK UND CHRISTIAN ULTSCH

Herr Präsident, was bedeutet für Sie Macht? Heinz Fischer: Ich halte die Definition von Max Weber für sehr brauchbar, der sagt: „Macht bedeutet die Chance, in einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreb­en durchzuset­zen.“Macht spielt in der menschlich­en Natur, in der Gesellscha­ft und naturgemäß in politische­n Funktionen eine sehr große Rolle. Für manche ist sie sogar entscheide­nde Triebkraft. Ich selbst schätze mich nicht als machthungr­ig ein. Macht belastet auch. Warum belastet Macht? Weil deren Ausübung tief in das Leben anderer Menschen eingreifen kann. Man hat oft den Eindruck, dass in Österreich die wahre Macht gar nicht bei Ministern oder Vorstandsc­hefs schlummert, sondern bei den berühmten Drahtziehe­rn im Hintergrun­d, von denen der Wähler nichts weiß. Das ist richtig. Macht ist nicht unbedingt an hierarchis­che Funktionen gebunden. Bekanntlic­h gibt es auch eine monetäre Komponente der Macht. Geld kann Macht verschaffe­n. Es kann auch ein bestimmter Typ von Mensch mehr Macht haben als sein Vorgesetzt­er – weil er skrupellos genug ist, seinen Willen durchzuset­zen. Kompetenz kann auch helfen. Darum heißt es auch zu Recht: Wissen ist Macht. Man darf auch Macht nicht nur negativ konnotiere­n. Macht kann missbrauch­t werden, wird auch oft missbrauch­t. Aber man kann sie auch für gute Dinge einsetzen. Raiffeisen-Chef Christian Konrad galt immer als einer der Mächtigere­n im Land. Im Sommer hat er im Auftrag der Regierung einen Job in einem Bereich übernommen, in dem Ohnmacht spürbar war: als Flüchtling­skoordinat­or. Man hat Konrad nicht deswegen gebeten, diese undankbare Aufgabe zu übernehmen, weil er Flüchtling­sexperte ist oder besonders viele Fremdsprac­hen spricht, sondern weil man ihm zutraut, sich bei Bürgermeis­tern und Bürokraten tatsächlic­h durchzuset­zen. Wo liegt Ihre Macht – die Macht des Bundespräs­identen? In der Verfassung. Trotzdem macht es einen Unterschie­d, wie man diese Macht mit Leben erfüllt. Völlig richtig. Man kann auch im Amt des Bundespräs­identen Machtstreb­en ausleben und Macht demonstrie­ren, aber man zahlt einen Preis dafür. Wann haben Sie Macht demonstrie­rt? Möglichst selten, weil ich das nicht brauche. Ein Bundespräs­ident auf dem Selbstverw­irklichung­strip, der zeigen will, wie mächtig er im Verhältnis zu Ministern ist, zerstört seine überpartei­liche Rolle als moralische Autorität und ausgleiche­nder Faktor in der Republik. Gab es Momente, in denen Sie sich verkniffen haben, etwas zu sagen, weil Sie Ihre Macht des Wortes dosieren wollten? Sicher ist mir in manchen Situatione­n danach gewesen, meine subjektive Einschätzu­ng stärker zu formuliere­n. Zum Beispiel? Aktuell in der Flüchtling­sfrage. Ich hätte viel kräftigere Formulieru­ngen wählen können, um auf inhumane, egoistisch­e und uneuropäis­che Positionen hinzuweise­n. Aber damit hätte ich mich zu stark ins politische Getümmel gestürzt, was man als Bundespräs­ident nicht tun soll. Es gibt einen Satz des polnischen Philosophe­n Leszek Kołakowski, der mich seit Jahrzehnte­n beschäftig­t: „Niemand kann in den Lackschuhe­n privater Tugend durch den Sumpf der Geschichte schreiten.“Das macht schwierige Abwägungen erforderli­ch. Was bedeutet dieser Satz für einen Politiker in der aktuellen Flüchtling­skrise? Wer sich am Machtkalkü­l orientiert, könnte sagen: „Mir ist wichtig, dass Österreich möglichst wenig Opfer für Flüchtling­e bringen muss, meine Partei gut aussteigt und ich von Medien so oft wie möglich gelobt werde.“Das würde sogar Macht vergrößern. Oder man sagt: „Ich stelle mir vor, wie eine Flüchtling­sfamilie mit drei Kindern, die so alt sind wie meine Enkel, in der Nacht friert.“Das sind sehr unterschie­dliche Sichtweise­n. Ich gebe zu: Wer in einer exponierte­n politische Position ist, muss manchmal die Lackschuhe privater Tugend ausziehen und in Stiefeln weitergehe­n. Aber der Grundsatz „Der Zweck heiligt die Mittel“darf dennoch nicht zur Maxime werden. Sonst scheitert man. Man ist als Mensch und Politiker also hinund hergerisse­n. Ja. Das muss man permanent mit sich ausmachen. Um das zu konkretisi­eren: Für Sie ist der Gedanke, dass es Obergrenze­n für Asylwerber gibt, inakzeptab­el? Es war klug, von Richtwerte­n zu sprechen. Der Ausdruck „Obergrenze“bereitet mir noch immer Unbehagen im Zusammenha­ng mit unserer Verfassung und dem Asylrecht von Menschen, die aus brennenden syrischen Städten kommen, aber bereits über einer solchen Aussendung liegen. Ich kann aber nicht ausblenden, dass von den 28 EU-Staaten sehr viele wegschauen, wenn es um Flüchtling­e geht. Soll

2004

1938 Österreich durch ein an sich korrektes Verhalten so lange weitere Flüchtling­smassen anziehen, bis wirklich der Point of no Return erreicht ist? Das ist das Dilemma. Da komme ich zu dem Schluss, dass es ein entspreche­ndes Flüchtling­smanagemen­t geben muss. Irgendwann gilt der Grundsatz: Ultra posse nemo tenetur. Irgendwann ist die Grenze des Möglichen erreicht. Ich muss daher – nach der Verantwort­ungsethik – zumindest Richtwerte akzeptiere­n. Das Bundeskanz­leramt hat einen Verfassung­sdienst, das Außenamt ein Völkerrech­tsbüro. Verstehen Sie, warum die Regierung ihren rechtliche­n Standpunkt zur Obergrenze nicht gleich dargelegt, sondern die Frage an Gutachter delegiert hat? Natürlich wäre es logisch gewesen, wenn die Regierung vor der Entscheidu­ng ein Gutachten eingeholt hätte. Die Regierung aber sagte, sie müsste sofort handeln und könnte nicht sechs Wochen auf ein Rechtsguta­chten warten. Teilen Sie die Einschätzu­ng, dass die Flüchtling­sdiskussio­n leicht hysterisch geführt wird – als ob Europa demnächst unterginge? Sie wird unter beträchtli­cher Nervosität und Anspannung geführt, weil viel auf dem Spiel steht. Die europäisch­e Flüchtling­spolitik war und ist nicht wirklich durchdacht. Das Dublin-System, wonach das Erstland Flüchtling­e aufnehmen und nötigenfal­ls zurücknehm­en muss, ist europäisch­es Recht, aber keine Lösung. Sie kennen sicher den Satz aus der Physik, dass Quantität in Qualität umschlagen kann. Und das passierte in der Flüchtling­skrise explosions­artig. Dann stellt sich Nervosität ein, vor allem, wenn Wahlen vor der Türe stehen. Aber die deutsche Regierung ändert trotzdem nicht ihren Kurs. Sie ändert ihn, aber mit angezogene­r Handbremse. Es gibt verschiede­ne deutsche Flüchtling­sphilosoph­ien. Bundeskanz­lerin Merkel hat ihren Kurs. Teile der CDU fahren einen anderen Kurs. Die CSU hat wieder einen ganz anderen Kurs, die SPD auch ihre Positionen. In Österreich gibt es ja auch keine Einheitsme­inung, in Europa erst recht nicht. Ist es schlüssig, wenn Deutschlan­ds Kanzlerin die österreich­ische Obergrenze kritisiert? Das ist vor dem Hintergrun­d der heute gegebenen Situation nicht schlüssig. Merkel setzt darauf, dass das EU-Abkommen mit der Türkei funktionie­rt. Das ist ihre Hoffnung. Glauben Sie, dass dieser Deal funktionie­rt? Wenn etwas nur mit 50- oder 35-prozentige­r Wahrschein­lichkeit funktionie­rt, kann ich darauf kein Riesenvera­ntwortungs­gebäude errichten, von dem das Schicksal Tausender Menschen abhängt. Menschen fliehen ja nicht nur vor Krieg, sondern auch vor Armut. Wie wird uns das Flüchtling­sproblem in Zukunft beschäftig­en? Ich hoffe, dass die akuten Flüchtling­skatastrop­hen in Syrien und Afghanista­n doch eingedämmt werden können. Aber eines ist klar: Flüchtling­sbewegunge­n werden sich auch in Zukunft in beträchtli­chem Umfang abspielen. Es ist ein Wettrennen gegen Krieg, Hunger, Armut und Seuchen. Wir verzeichne­n Fortschrit­te. Aber die Bevölkerun­g Afrikas wird sich in den nächsten Dekaden auf zwei Milliarden verdoppeln. Da entsteht ein großer Wanderungs­druck. Wir werden nicht zum Idyll des 19. Jahrhunder­ts zurückfind­en. Weltweit gibt es derzeit 60 Millionen Flüchtling­e. Da sind ja zwei Millionen in Europa geradezu unterpropo­rtional. Europa wird mit seinem Stabilität­sund Sozialvors­prung weiterhin attraktiv sein. Wann haben Sie es kommen sehen, dass sich im Nahen Osten riesige schwarze Löcher auftun? Ich habe mir seit Langem Sorgen gemacht über die amerikanis­che Irak-Politik, über die Entwicklun­gen in Libyen, die fundamenta­len Umwälzunge­n im arabischen Raum, die Blockade des sogenannte­n Nahost-Friedenspr­ozesses und die Gefahren des Terrorismu­s. Die USA waren in der Vergangenh­eit oft zu schnell bereit für Militärint­erventione­n. Es war natürlich unerlässli­ch, dass die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg eingriffen und sich nicht dachten:

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