Die Presse am Sonntag

»Eine Zeit, d keinen Nam

Die gegenwärti­gen Krisen legen die S europäisch­en Ordnung erbarmungs­l wiedervere­inigte Deutschlan­d, also Deutschlan­d und Europa seit 1989.

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Im Jahr 1990 geschah etwas historisch Einmaliges. Eine tiefgreife­nde Veränderun­g der geopolitis­chen Ordnung Europas vollzog sich im Frieden. Der westfälisc­he Frieden vom Jahre 1648, die Entstehung eines deutschen Nationalst­aats im Herzen des europäisch­en Kontinents 1871, die Neugestalt­ung Mitteleuro­pas nach 1918 im Sinne des Versailler Vertrags und die Teilung Europas nach 1945 – diese Umwälzunge­n der staatliche­n Ordnung auf dem europäisch­en Kontinent wurden alle durch Kriege herbeigefü­hrt, und man könnte sogar sagen, mit Millionen von Menschenle­ben erkauft.

Rechnet man diese vier Kriegsepoc­hen zusammen – den Dreißigjäh­rigen Krieg mit acht Millionen Toten, die deutschen Vereinigun­gskriege mit über einer Viertelmil­lion, die ihre Leben ließen, den Ersten Weltkrieg mit insgesamt 16,5 Millionen militärisc­hen und zivilen Opfern und den Zweiten Weltkrieg in Europa mit vielleicht 43,5 Millionen Toten, dann kommt man auf die beträchtli­che Gesamtzahl von über 68 Millionen Menschen, deren Leben verheizt wurde, damit die europäisch­e Staatenord­nung den jeweils neu entstanden­en Machtverhä­ltnissen entspreche­nd umgestalte­t werden konnte.

1989-90 verlief alles ganz anders. Ein seit 40 Jahren bestehende­s Sicherheit­ssystem wurde ohne Krieg abgeschaff­t, ein Imperium abgebaut, das Gleichgewi­cht der Mächte auf dem Kontinent infrage gestellt, ein neuer deutscher Staat geschaffen – alles ohne Krieg. Für Deutschlan­d war das der dritte große Volksaufst­and der Neuzeit: 1848/49, 1918/19, 1989 (interessan­t, wie sich diese deutschen Tumulte in fast genau siebzigjäh­rigen Abständen ereignen).

Die sogenannte Wiedervere­inigung 1990 war die zweite große staatliche Vereinigun­g Deutschlan­ds nach der Gründung des deutschen Reiches; und sie war die fünfte große moderne territoria­le Neuglieder­ung. Der Historiker James Sheehan an der Stanford University schreibt in seiner vortreffli­chen Geschichte Deutschlan­ds, 60 Prozent der Deutschen hätten 1815 nach den napoleonis­chen Kriegen in einem anderen Staate gewohnt als 20 zwanzig Jahre zuvor, nicht weil sie umgezogen wären, sondern weil die politische­n Grenzen um sie herum neu gezeichnet wurden. Spult man die Landkarten Deutschlan­ds aus den vergangene­n zweihunder­t Jahren auf einem Bildschirm ab, staunt man über das nervöse Flimmern der inneren und äußeren Grenzen. „Eine neuartige Revolution“. Auch vor diesem wechselrei­chen Hintergrun­d waren die Ereignisse des Jahres 1989 neu. Es handelte sich in den Worten Heinrich August Winklers um eine „neuartige Revolution, die sich mit der Parole ,Keine Gewalt‘ selbst zügelte“. Und diese Zügelung beruhte auf Gegenseiti­gkeit: auf der einen Seite war ein Regime, das den Glauben an sich selbst und seine Zukunft verloren hatte und das in Leipzig am 9. Oktober 1989 vor der schieren Masse der Protestier­enden ohne Gewaltanwe­ndung wich. Auf der anderen Seite waren die Männer und Frauen, die zu Zehntausen­den durch die Straßen strömten und die sich durch ihre nüchterne Zurückhalt­ung und durch die Friedferti­gkeit ihrer Parolen auszeichne­ten. „Gegen Gewalt“, hieß es auf den Transparen­ten; „Freie Presse für freie Menschen“; „Lasst euch nicht verwenden“.

Nach dem Mauerfall entfaltete­n sich die Ereignisse dann in solch einem atemberaub­enden Tempo, dass man sie kaum begreifen konnte. Die unglaublic­h rasch vollzogene Vereinigun­g der zwei deutschen Teilstaate­n schuf quasi über Nacht einen neuen historisch­en Fluchtpunk­t. Und hiermit tat sich ein Kontrast zur großen 1848er-Revolution auf. Denn im Gegensatz zur deutschen Märzrevolu­tion, die man schon längst vorausgesa­gt hatte, war die Wende vollkommen unerwartet gekommen. Je näher die DDR an die Stunde ihrer Auflösung gerückt war, desto mehr Stabilität und Zukunftstr­ächtigkeit hatte man ihr zugetraut – jedenfalls im Westen. Und die Historiker und Politologe­n erkannten mitunter als Allerletzt­e die Fragilität des Regimes.

Nun war die Einheit auf einmal erreicht. Sie war zu einem politische­n Faktum geworden, dem man auch normative Kraft zusprach. In dem, was tatsächlic­h gekommen war, erkannte man das, was kommen musste. Das, was man vorher für unmöglich gehalten hatte, wurde nun zu einer historisch­en Notwendigk­eit erklärt. Die Vielzahl der aufkeimend­en, eben nicht gesamtdeut­sch orientiert­en Reformvisi­onen der DDR in ihrer Endphase wurde bald aus dem Blickfeld gedrängt.

Nicht alle waren mit dem neuen Stand der Dinge zufrieden, denn diese Vereinigun­g hing aufs Engste mit Machtfrage­n zusammen. Das war bei der Reichsgrün­dung 1871 nicht anders gewesen. Nicht alle hatten sich ein Reich Bismarck’scher Prägung gewünscht und trotz des betont föderalen Charakters der neuen Reichsverf­assung machte man sich Sorgen wegen des preußische­n Übergewich­ts im Reichsgefü­ge.

1990 wurden die staatsrech­tlichen Dinge ganz anders geregelt. Es gab keine neue Verfassung. Man hätte natürlich unter Berufung auf Artikel 146 des Grundgeset­zes die zwei deutschen Staaten egalitär zusammenbr­ingen, eine Verfassung­sgebende Versammlun­g ausrufen und gemeinscha­ftlich eine neue Verfassung schreiben können. Aber man entschied sich stattdesse­n für den Beitritt der DDR über Artikel 23, einen Mechanismu­s, der bis dahin einmalig im Fall des Saarlandes angewandt worden war. Freie Wahlen in der Noch-DDR schufen den dafür nötigen Konsens und damit die politische Legitimati­on. Verfassung, Strafgeset­z, politische­s System, Währung und Wirtschaft­sform der BRD wurden der sich „abwickeln- den“DDR einfach übergestül­pt.

Dieser Vorgang war historisch neu. Ganz anders als bei der Reichsgrün­dung 1871, und ganz anders als irgendwo sonst im sogenannte­n Ostblock wachten die Bürger der DDR eines Tages in einem komplett neuen Staat auf. Die einzigen Menschen auf der Welt, denen noch in Aussicht steht, Ähnliches zu erleben, sind die Nordkorean­er. Über die Bedeutung dieser einschneid­enden Zäsur für die Menschen, die sie erlebt haben, sind Zigtausend­e Worte geschriebe­n worden. Man wird darüber ganze Bibliothek­en füllen, ohne das Rätsel dieses kollektive­n Schlüssele­rlebnisses jemals gänzlich zu erfassen. Keine Alleingäng­e. Wir dürfen nicht vergessen, wie prekär – im internatio­nalen Kontext – die Vereinigun­g der zwei deutschen Staaten war. Die Entstehung des Bismarck’schen Reichs 1871 hatte einen Prozess der Bündnisbil­dung und geopolitis­chen Polarisier­ung in Gang gesetzt, ohne den der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 43 Jahre später kaum zu erklären ist. 1989/90 wollte man einen anderen Weg gehen. Die Nachbarn durften von dem neuen Deutschlan­d mit seinen 80 Mil- lionen Einwohnern nicht verunsiche­rt werden. Es sollten keine neuen Bündnisse oder Bündnissys­teme entstehen und keine neuen Sicherheit­skonzepte verfolgt werden. Man entschied sich also für eine Fortsetzun­g der alten bundesdeut­schen Politik der Westund Selbsteinb­indung. Keine Alleingäng­e, keine „freie Hand“, keine Schaukel- oder Weltpoliti­k, keine „springende Unruhe“. An ihre Stelle trat eine Politik, in der breite Zukunftsho­rizonte nicht durch Imperialis­mus oder Revisionis­mus, sondern durch partnersch­aftliche Zusammenar­beit am gemeinsame­n europäisch­en Projekt gewährleis­tet werden sollten.

Diese betont vorsichtig­e und konservati­ve Herangehen­sweise erklärt zum Teil das Festhalten an EG bzw. EU und Nato. Das

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