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Strukturschwäche der neu befestigten los offen – und sie exponieren das das Schwergewicht des Kontinents.
von Michail Gorbatschow vorgelegte Konzept eines gemeinsamen europäischen Hauses mit der Sowjetunion, aber ohne Amerika wurde nie ernsthaft verfolgt, ebenso wenig die Idee Hans-Dietrich Genschers, die KSZE zu einem paneuropäischen Sicherheitssystem auszubauen. Man mied Experimente, man blieb bei dem, was man schon kannte, was sich schon als belastungsfähig erwiesen hatte. Und so konnte man schon im Spätherbst 1990 mit einer gewissen Genugtuung auf das vollendete Werk schauen. Ein Schlussstrich wurde unter den Zweiten Weltkrieg gezogen, und der Kalte Krieg kam zu einem friedlichen Ende. Was danach kam, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Jugoslawien-Kriege, die zwei tschetschenischen Kriege, der Terrorangriff auf New York am 11. September, der Afghanistan-Krieg, der Irak-Krieg und seine Nachwehen, die Georgien-Krise, die Weltwirtschaftskrise, die Ukraine-Krise, die griechische Finanzkrise und nun die Flüchtlingskrise, hatte niemand vorausgesagt. Die bipolare Stabilität des Kalten Krieges ist nun einem neuen genuin multipolaren Mächtegefüge gewichen. Und das heißt: weniger Transparenz, Unberechenbarkeit als Wesenszeichen des Systems und die Entstehung neuer und zunehmend eigenständiger regionaler Mächtekonstellationen. Wir befinden uns in einer Zeit, die – um auf die Worte Roman Herzogs aus dem Jahre 1995 zurückzugreifen – „noch keinen Namen hat“.
Diese Entwicklungen haben die Strukturschwächen der soeben neu befestigten europäischen Ordnung auf unbarmherzige Weise bloßgestellt und damit das vereinigte Deutschland vor neue Herausforderungen gestellt. Die westdeutsche Außenpolitik war seit dem Zweiten Weltkrieg durch eine starke Präferenz für multilaterale Lösungen geprägt. Deutschland dürfe, so der „Weltkanzler“Helmut Schmidt, nie allein führen. Aber diese Neigung zur Konsenspolitik setzte voraus, dass es eine konsensfähige Struk- Geboren 1960 in Sydney, tur gibt, in die man sich bequem einbetten konnte. Gibt es so ein Gefüge noch? Und für wie lang? Stresstests. Man denke an die Sommerkrise 2014, als die Spannung zwischen Nato und Russland sich schlagartig zuspitzte. Als Nato-Satellitenbilder am 29. August veröffentlicht wurden, die auf die Präsenz russischer Streitkräfte in der Ukraine hinwiesen, reagierte Wladimir Putin am selben Tag mit der Warnung, man solle mit Russland keinen Spaß treiben – schließlich verfüge es nach wie vor über ein beachtliches Nukleararsenal. Am 30. August reagierte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen mit einer Mitteilung: Die Nato wäre eventuell bereit, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, falls das Parlament in Kiew sich entschließen sollte, den blockfreien Status des Landes aufzuheben. Gleichzeitig aber – am selben Tag! – gab die deutsche Bundesregierung bekannt, sie lehne eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ab. Das Thema stehe nicht auf der Tagesordnung. Solche Dissonanzen zeigen, wie schnell im Stresstest der Krise das Sicherheitsnetz ausfransen kann.
Wenn die Kohärenz und damit die Glaubwürdigkeit der Nato gelegentlich durch ein Auseinanderdriften der Interessen und Perspektiven gefährdet scheinen, so sieht es bei der EU nicht viel anders aus. Im Gegenteil, die Meinungen der einzelnen EUMitglieder driften oftmals viel weiter auseinander. Die Griechenland-Krise warf ein grelles Licht auf die Fehlkonstruktion einer Währungsunion ohne politische Bodenhaftung, in der Politik und Ökonomie getrennt werden konnten. Der Philosoph Jürgen Habermas hat mit Recht auf die Gefahren einer Situation hingewiesen, in der man die Volksvertreter eines europäischen Staates nicht als Politiker, sondern lediglich als Gläubiger behandelt.
Vor diesem Hintergrund musste die neuerliche Flüchtlingskrise als existenzielle Bedrohung wahrgenommen werden: Sie stellte die Europäische Union vor ein an sich äußerst komplexes Problem, setzte die einzelnen Staatschefs unter Handlungsdruck und brachte unkoordinierte Alleingänge hervor, die wiederum eine gemeinsame Krisenbewältigung erschwerten. Und gleichzeitig wurden rechtspopulistische Gruppierungen, die meist sowieso zur Euroskepsis neigen, mit Brennstoff versorgt, die Angst vor Überfremdung und sozialem Abstieg zu schüren. Das deutsche Feindbild. In diesem konsensarmen, von Krisen geschüttelten Europa steht das vereinigte Deutschland als Schwergewicht unter den Mitgliedstaaten immer wieder an exponierter Stelle. Wer die Krisen des vergangenen Jahres in den englischsprachigen Medien verfolgte, musste überrascht feststellen, wie oft man auf die komplexen Probleme der letzten Zeit mit alten Feindbildern und kernigen Schlagwörtern reagierte: „Die Deutschen“, so hieß es, würden Europa auf dem Altar des Euro opfern; sie würden ganz Europa dazu zwingen, Griechenland zu demütigen; sie würden die finanzschwachen Südländer als „Kolonien“ausbeuten. Ganz ohne solche Verleumdungen werden die Deutschen wohl nicht wegkommen – das geht mit dem gewachsenen Einfluss das Landes einher. Allerdings wird die deutsche Politik auch mehr tun müssen, ihre politische Vision für Europa in Partnerschaft mit gleichgesinnten Staaten der Union zu formulieren und zu vermitteln. Sie wird klarer und einheitlicher sprechen müssen, um das Primat der Politik zu bewahren. Denn die schlechte Presse, die Deutschland im Ausland während der Griechenland-Krise bekommen hat, hatte weniger mit dem Inhalt der deutschen Politik zu tun als mit dem durch mangelhaftes Kommunikationsmanagement zustande gekommenen Wirrwarr von zum Teil widersprüchlichen Stimmen, die während der heißesten Phase der Krise an die Öffentlichkeit gelangten.
Das mühsame Entscheiden durch Gremien und Gipfel, das Gerangel der Entscheidungsträger hinter geschlossenen Türen sind gewiss mit Risken behaftet. Intelligente Entscheidungsprozesse sind komplex und uncharismatisch. Aber wer meint, man käme ohne die EU besser aus, muss auch die Frage beantworten, ob die Probleme des heutigen Europa eher an den Strukturfehlern der EU liegen oder an dem noch wuchernden Egoismus der Nationalstaaten. Hätte ein Europa ohne die EU die Flüchtlingskrise wirklich besser bewältigt? Es besteht schon lang eine beachtliche Tendenz in der europäischen Öffentlichkeit, politische Erfolge auf das Konto der Nationalstaaten zu verbuchen und Niederlagen zu europäisieren.
Die Europäische Union bleibt nach wie vor ein unverzichtbares politisches Projekt. Sie passt nicht nur zu den Interessen Deutschlands in wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Hinsicht, sondern auch zum Wesen des wiedervereinigten Deutschland. Die deutsche Frage war schon immer eine europäische Frage. Die europäischen und transatlantischen Partner stimmten der deutschen Wiedervereinigung zu, weil sie zu Recht darauf vertrauten, dass die Einheit Deutschlands auch der Einigung Europas und damit dem Frieden dienen würde. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die EU sogar 2012 den Friedensnobelpreis gewann: „Für ihren erfolgreichen Kampf für Frieden und Aussöhnung und für Demokratie und Menschenrechte. Der Stabilisierungsfaktor, der von der EU ausgeht, hat dazu beigetragen, den Großteil Europas von einem Kontinent des Krieges in einen Kontinent des Friedens zu verwandeln.“Das sind Errungenschaften, an die wir uns nicht nur erinnern sollen, sondern an denen wir festhalten und arbeiten müssen.