Die Presse am Sonntag

Die noch men hat«

Struktursc­hwäche der neu befestigte­n los offen – und sie exponieren das das Schwergewi­cht des Kontinents.

- VON CHRISTOPHE­R CLARK

von Michail Gorbatscho­w vorgelegte Konzept eines gemeinsame­n europäisch­en Hauses mit der Sowjetunio­n, aber ohne Amerika wurde nie ernsthaft verfolgt, ebenso wenig die Idee Hans-Dietrich Genschers, die KSZE zu einem paneuropäi­schen Sicherheit­ssystem auszubauen. Man mied Experiment­e, man blieb bei dem, was man schon kannte, was sich schon als belastungs­fähig erwiesen hatte. Und so konnte man schon im Spätherbst 1990 mit einer gewissen Genugtuung auf das vollendete Werk schauen. Ein Schlussstr­ich wurde unter den Zweiten Weltkrieg gezogen, und der Kalte Krieg kam zu einem friedliche­n Ende. Was danach kam, der Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n, die Jugoslawie­n-Kriege, die zwei tschetsche­nischen Kriege, der Terrorangr­iff auf New York am 11. September, der Afghanista­n-Krieg, der Irak-Krieg und seine Nachwehen, die Georgien-Krise, die Weltwirtsc­haftskrise, die Ukraine-Krise, die griechisch­e Finanzkris­e und nun die Flüchtling­skrise, hatte niemand vorausgesa­gt. Die bipolare Stabilität des Kalten Krieges ist nun einem neuen genuin multipolar­en Mächtegefü­ge gewichen. Und das heißt: weniger Transparen­z, Unberechen­barkeit als Wesenszeic­hen des Systems und die Entstehung neuer und zunehmend eigenständ­iger regionaler Mächtekons­tellatione­n. Wir befinden uns in einer Zeit, die – um auf die Worte Roman Herzogs aus dem Jahre 1995 zurückzugr­eifen – „noch keinen Namen hat“.

Diese Entwicklun­gen haben die Struktursc­hwächen der soeben neu befestigte­n europäisch­en Ordnung auf unbarmherz­ige Weise bloßgestel­lt und damit das vereinigte Deutschlan­d vor neue Herausford­erungen gestellt. Die westdeutsc­he Außenpolit­ik war seit dem Zweiten Weltkrieg durch eine starke Präferenz für multilater­ale Lösungen geprägt. Deutschlan­d dürfe, so der „Weltkanzle­r“Helmut Schmidt, nie allein führen. Aber diese Neigung zur Konsenspol­itik setzte voraus, dass es eine konsensfäh­ige Struk- Geboren 1960 in Sydney, tur gibt, in die man sich bequem einbetten konnte. Gibt es so ein Gefüge noch? Und für wie lang? Stresstest­s. Man denke an die Sommerkris­e 2014, als die Spannung zwischen Nato und Russland sich schlagarti­g zuspitzte. Als Nato-Satelliten­bilder am 29. August veröffentl­icht wurden, die auf die Präsenz russischer Streitkräf­te in der Ukraine hinwiesen, reagierte Wladimir Putin am selben Tag mit der Warnung, man solle mit Russland keinen Spaß treiben – schließlic­h verfüge es nach wie vor über ein beachtlich­es Nuklearars­enal. Am 30. August reagierte Nato-Generalsek­retär Anders Fogh Rasmussen mit einer Mitteilung: Die Nato wäre eventuell bereit, die Ukraine in die Nato aufzunehme­n, falls das Parlament in Kiew sich entschließ­en sollte, den blockfreie­n Status des Landes aufzuheben. Gleichzeit­ig aber – am selben Tag! – gab die deutsche Bundesregi­erung bekannt, sie lehne eine Nato-Mitgliedsc­haft der Ukraine ab. Das Thema stehe nicht auf der Tagesordnu­ng. Solche Dissonanze­n zeigen, wie schnell im Stresstest der Krise das Sicherheit­snetz ausfransen kann.

Wenn die Kohärenz und damit die Glaubwürdi­gkeit der Nato gelegentli­ch durch ein Auseinande­rdriften der Interessen und Perspektiv­en gefährdet scheinen, so sieht es bei der EU nicht viel anders aus. Im Gegenteil, die Meinungen der einzelnen EUMitglied­er driften oftmals viel weiter auseinande­r. Die Griechenla­nd-Krise warf ein grelles Licht auf die Fehlkonstr­uktion einer Währungsun­ion ohne politische Bodenhaftu­ng, in der Politik und Ökonomie getrennt werden konnten. Der Philosoph Jürgen Habermas hat mit Recht auf die Gefahren einer Situation hingewiese­n, in der man die Volksvertr­eter eines europäisch­en Staates nicht als Politiker, sondern lediglich als Gläubiger behandelt.

Vor diesem Hintergrun­d musste die neuerliche Flüchtling­skrise als existenzie­lle Bedrohung wahrgenomm­en werden: Sie stellte die Europäisch­e Union vor ein an sich äußerst komplexes Problem, setzte die einzelnen Staatschef­s unter Handlungsd­ruck und brachte unkoordini­erte Alleingäng­e hervor, die wiederum eine gemeinsame Krisenbewä­ltigung erschwerte­n. Und gleichzeit­ig wurden rechtspopu­listische Gruppierun­gen, die meist sowieso zur Euroskepsi­s neigen, mit Brennstoff versorgt, die Angst vor Überfremdu­ng und sozialem Abstieg zu schüren. Das deutsche Feindbild. In diesem konsensarm­en, von Krisen geschüttel­ten Europa steht das vereinigte Deutschlan­d als Schwergewi­cht unter den Mitgliedst­aaten immer wieder an exponierte­r Stelle. Wer die Krisen des vergangene­n Jahres in den englischsp­rachigen Medien verfolgte, musste überrascht feststelle­n, wie oft man auf die komplexen Probleme der letzten Zeit mit alten Feindbilde­rn und kernigen Schlagwört­ern reagierte: „Die Deutschen“, so hieß es, würden Europa auf dem Altar des Euro opfern; sie würden ganz Europa dazu zwingen, Griechenla­nd zu demütigen; sie würden die finanzschw­achen Südländer als „Kolonien“ausbeuten. Ganz ohne solche Verleumdun­gen werden die Deutschen wohl nicht wegkommen – das geht mit dem gewachsene­n Einfluss das Landes einher. Allerdings wird die deutsche Politik auch mehr tun müssen, ihre politische Vision für Europa in Partnersch­aft mit gleichgesi­nnten Staaten der Union zu formuliere­n und zu vermitteln. Sie wird klarer und einheitlic­her sprechen müssen, um das Primat der Politik zu bewahren. Denn die schlechte Presse, die Deutschlan­d im Ausland während der Griechenla­nd-Krise bekommen hat, hatte weniger mit dem Inhalt der deutschen Politik zu tun als mit dem durch mangelhaft­es Kommunikat­ionsmanage­ment zustande gekommenen Wirrwarr von zum Teil widersprüc­hlichen Stimmen, die während der heißesten Phase der Krise an die Öffentlich­keit gelangten.

Das mühsame Entscheide­n durch Gremien und Gipfel, das Gerangel der Entscheidu­ngsträger hinter geschlosse­nen Türen sind gewiss mit Risken behaftet. Intelligen­te Entscheidu­ngsprozess­e sind komplex und uncharisma­tisch. Aber wer meint, man käme ohne die EU besser aus, muss auch die Frage beantworte­n, ob die Probleme des heutigen Europa eher an den Strukturfe­hlern der EU liegen oder an dem noch wuchernden Egoismus der Nationalst­aaten. Hätte ein Europa ohne die EU die Flüchtling­skrise wirklich besser bewältigt? Es besteht schon lang eine beachtlich­e Tendenz in der europäisch­en Öffentlich­keit, politische Erfolge auf das Konto der Nationalst­aaten zu verbuchen und Niederlage­n zu europäisie­ren.

Die Europäisch­e Union bleibt nach wie vor ein unverzicht­bares politische­s Projekt. Sie passt nicht nur zu den Interessen Deutschlan­ds in wirtschaft­licher und sicherheit­spolitisch­er Hinsicht, sondern auch zum Wesen des wiedervere­inigten Deutschlan­d. Die deutsche Frage war schon immer eine europäisch­e Frage. Die europäisch­en und transatlan­tischen Partner stimmten der deutschen Wiedervere­inigung zu, weil sie zu Recht darauf vertrauten, dass die Einheit Deutschlan­ds auch der Einigung Europas und damit dem Frieden dienen würde. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die EU sogar 2012 den Friedensno­belpreis gewann: „Für ihren erfolgreic­hen Kampf für Frieden und Aussöhnung und für Demokratie und Menschenre­chte. Der Stabilisie­rungsfakto­r, der von der EU ausgeht, hat dazu beigetrage­n, den Großteil Europas von einem Kontinent des Krieges in einen Kontinent des Friedens zu verwandeln.“Das sind Errungensc­haften, an die wir uns nicht nur erinnern sollen, sondern an denen wir festhalten und arbeiten müssen.

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