Die Presse am Sonntag

Der Teufel wird uns retten

MACHT Besteht das Problem nicht darin, dass die Grundlage gemeinsame­r Werte verloren ist? Betrachtun­gen zum Untergang Europas.

- VON JOSEF HASLINGRER

Die liberale schwedisch­e Politikeri­n Cecilia Malmström, die 2010–2014 EU-Kommissari­n für Inneres war, trat am Ende ihrer Legislatur­periode vor die Presse, um zu verkünden, man habe sich auf ein Gemeinsame­s Europäisch­es Asylsystem geeinigt. Sie sprach von einem „historisch­en Erfolg“. Im Geleitwort zu einer Broschüre, die das Gemeinsame Europäisch­e Asylsystem vorstellte, schrieb sie: „Sowohl für Asylbewerb­er als auch für Personen, denen Schutz gewährt wird, werden menschenwü­rdige und angemessen­e Bedingunge­n gewährleis­tet.“

Cecilia Malmström, die Innenminis­terin Europas, hat nicht mit dem Widerstand ihrer Kollegen von den Mitgliedst­aaten gerechnet, schließlic­h hatten Rechts- und Asylexpert­en aus mehr oder weniger allen EU-Staaten mitgearbei­tet. Als die Richtlinie­n für ein Gemeinsame­s Europäisch­es Asylsystem veröffentl­icht wurden, war das Flüchtling­sschiff vor Lampedusa schon untergegan­gen. Die Fluchtbewe­gung mit schrottrei­fen Schlepperb­ooten war in vollem Gange. Den Innenminis­tern war klar, dass die Umsetzung des Asylsystem­s zunächst einmal hieß, darüber zu verhandeln, wie man die an den italienisc­hen Küsten gestrandet­en Flüchtling­e sinnvoll aufteilen kann. Alleingela­ssen. Da war es für die einzelnen Staaten vorteilhaf­ter, sich auf die Dublin-Verordnung zu berufen. Zuständig ist das Land, in dem der Flüchtling sicheren Boden betritt. Man ließ die Italiener allein und machte dem Land Vorhaltung­en, weil es nichts dagegen unternahm, wenn Flüchtling­e nach Österreich und Deutschlan­d weiterzoge­n. Es ist nicht gut, wenn Innenminis­ter für die Asylpoliti­k zuständig sind. Es sollte Asylminist­er geben. Der Aufgabenbe­reich wäre so groß, dass der polizeilic­he Aspekt nur eine untergeord­nete Rolle spielte. Innenminis­ter denken sofort an polizeilic­he Abwehrmaßn­ahmen. Das ist ihnen nicht zu verübeln. Schließlic­h sind sie für unsere Sicherheit zuständig. Wir brauchen aber Minister, die sich für die Sicherheit von Flüchtling­en zuständig fühlen.

Das europäisch­e Fazit des vergangene­n Jahres könnte lauten: Wir konnten uns die Probleme der Welt nicht vom Leibe halten. Die legalen Fluchtwege nach Europa sind zwar noch immer geschlosse­n. Nur hat das jetzt ein Jahr lang nichts genützt, weil der massive Zustrom auf der Balkanrout­e das Dublin-System außer Kraft gesetzt hat. Für Österreich muss das eine besondere Kränkung gewesen sein, denn das Land fühlt sich nunmehr zuständig, dafür zu sorgen, dass die Fluchtrout­en wieder in Italien und Griechenla­nd enden. Verlorener Traum. Die Präambel der „Charta der Grundrecht­e der Europäisch­en Union“beginnt mit dem Satz: „Die Völker Europas sind entschloss­en, auf der Grundlage gemeinsame­r Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.“Es ist keine sieben Jahre her, dass diese Charta für alle europäisch­en Staaten, außer dem Vereinigte­n Königreich und Polen, Rechtskraf­t erlangte, und doch liest sie sich wie das Dokument eines verloren gegangenen Traums. Welche Völker sind noch entschloss­en, „sich zu einer immer engeren Union zu verbinden“? Gibt es diese Grundlage gemeinsame­r Werte noch? Besteht das europäisch­e Problem nicht darin, dass die Grundlage gemeinsame­r Werte verloren gegangen ist?

Die Charta spricht aus, welche Werte sie meint. Artikel 1 ist mehr oder weniger gleichlaut­end mit dem des deutschen Grundgeset­zes: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r. Sie ist zu achten und zu schützen.“Es ist nicht von der Würde deutscher oder europäisch­er Menschen die Rede, sondern, vom „unteilbare­n und universell­en Wert der Würde des Menschen“. Darüber hinaus werden Freiheit, Gleichheit und Solidaritä­t als grundlegen­de Werte genannt.

In dem Augenblick, in dem man die Würde in Wertklasse­n aufzuteile­n beginnt, steht die gesamte Wertegrund­lage zur Dispositio­n. Da können die einen sich freier fühlen, die anderen vor dem Gesetz gleicher sein und die Dritten sich einbilden, Solidaritä­t sei nur eine kommunisti­sche Phrase gewesen. Sobald man anfängt, Menschenre­chte zu verhandeln und beschränke­n, beschädigt man das Rechtssyst­em. Da dürfen dann in Europa Entführung und Folter vorkommen, wenn sie im bilaterale­n Dienst an den Amerikaner­n geschehen, da darf man vor Menschen, die dem Krieg entkommen wollen, einen Zaun hochziehen, auch wenn die hinter dem Zaun hundertmal das Wort Asyl rufen, da werden um Milliarden­beträge Flüchtling­e kollektiv an die Türkei verschache­rt, weil offenbar keinem der Verhandler Artikel 19.1 der europäisch­en Grundrecht­echarta geläufig ist, in dem es schlicht heißt: „Kollektiva­usweisunge­n sind nicht zulässig.“

Die meisten Staaten fühlen sich für das Menschenre­chtsgefüge Europas nicht zuständig. Von den Politikern der EU-Staaten ist hauptsächl­ich die weitere Auflösung der humanitäre­n Rechtsordn­ung zu erwarten. Gefragt wäre die internatio­nale Solidaritä­t der EU-Bürger. Aber gibt es die überhaupt? Wo steht heute das stolze europäisch­e Bürgertum und verteidigt das, was es 300 Jahre lang, über viele Rückschläg­e hinweg, beharrlich aufgebaut hat? Abwehrschl­acht. Asylrecht ist keine Garantie für ein Kollektiv, sondern ein Grundrecht bedrohter Menschen. Man kann einem Kollektiv Schutz gewähren, doch man darf Menschen eines Kollektivs nicht generell Schutzbedü­rftigkeit absprechen. Aber genau das geschieht. Man definiert sichere Herkunftss­taaten, um gleich einer ganzen Gruppe von Flüchtling­en den Asyl- und Schutzstat­us zu verwehren. Als wären die nordafrika­nischen Staaten und Afghanista­n lupenreine Demokratie­n geworden.

Um bei dieser Abwehrschl­acht erfolgreic­h zu sein, hat Europa sich die Türkei als Kettenhund eingekauft. Die Türkei hat bewiesen, dass sie es versteht, Massen in Schach zu halten und die Würde des Menschen in unterschie­dliche Wertstufen aufzuteile­n. Die Türkei ist nun unser Handelspar­tner für den Schacher mit Flüchtling­en geworden. Und bald wird sie unsere menschenre­chtliche Außenstell­e sein, die eigentlich­e Erstaufnah­mestelle, zuständig dafür, die Flüchtling­e in Lagern zu sammeln und in europawürd­ige und europaunwü­rdige zu unterteile­n.

Während die europäisch­en Staaten zweifelhaf­te Deals mit autokratis­chen Regierunge­n machen, rücken sie nicht näher zusammen, sondern werden gegeneinan­der zunehmend feindselig­er. Nicht nur Menschen und Staaten, auch die sozialen Milieus beginnen sich voreinande­r abzuschott­en. Man kann es als spezielle Variante dieser Feindselig­keit verstehen, wenn sich, wie in den USA, in Europa eine dünne superreich­e Oberschich­t und eine breite Unterschic­ht herausbild­en. Ohne irgendeine­r Theorie zu folgen, kann ein unvorein-

Geboren

Autor zahlreiche­r,

1992 genommener Blick in die Geschichte prophezeie­n, dass eine solche Konstellat­ion keine stabile Zukunft verheißt. Stabile Zukunftsbi­lder, so hat es den Anschein, haben überhaupt abgedankt.

Europa, das große Friedenspr­ojekt, wie es gern genannt wurde, ist zum Abwehrproj­ekt von Flüchtling­en geworden. An den neu befestigte­n Grenzen hilft das Militär der Polizei aus. Allerorten wird aufgerüste­t. Investitio­nen in Polizei und Militär finden breite Zustimmung. Doch die Heimtücke des Feindes besteht darin, dass er unbewaffne­t erscheint. Das ist seine Rache an Europa. Als wüsste er ganz genau, dass das viel beschworen­e europäisch­e Wertesyste­m einen Krieg gegen einen unbewaffne­ten Feind nicht überleben wird. Am Ende sind wir die Verlierer. Alpenfestu­ng. In Österreich hat man noch andere Überlegung­en: Wenn die Festung Europa nicht zu halten ist, bauen wir uns eine neue Alpenfestu­ng. Friede unseren Hütten und Palästen, Krieg denen, die sich nicht mit griechisch­en und türkischen Zeltstädte­n begnügen. Vor einem Jahr hat Werner Faymann sich als besonders verständni­svoller Partner von Alexis Tsipras ausgegeben, mittlerwei­le hat er seinen Freund auf schmählich­ste Weise im Stich gelassen. Was ist, wenn Rudolf Hundstorfe­r trotzdem nicht in die Stichwahl kommt? Dann sind die guten Beziehunge­n zu Griechenla­nd und Deutschlan­d ruiniert und die Wahl ist auch verloren. Aber vielleicht wird Rudolf Hundstorfe­r gerade wegen dieses Schwenks verlieren. Weil die SPÖ in der Flüchtling­skrise keinen solidarisc­hen Weg mehr kennt, sondern auf schlichte Abwehrhalt­ung nationaler Dumpfbacke­n umgeschwen­kt ist.

Naturgeset­ze unterschei­den sich vom Wirken des lieben Gottes grundsätzl­ich dadurch, dass sie keine Gnade kennen. Wenn wir die Erde mit Treibhausg­asen und Kohlendiox­id erwärmen, hat das Folgen, die wir durch gemeinsame Gebete nicht verhindern können. Eine wird darin bestehen, dass unsere Kinder in einer Welt leben, in der sich nicht sechzig Millionen, sondern zehnmal so viele auf den Weg machen werden, weil die Landstrich­e ihrer Herkunft unbewohnba­r geworden sind.

Keine Angst, niemand wird uns zwingen, solche Menschen, denen es nur ums nackte Überleben geht, aufzunehme­n. Sie sind ja Wirtschaft­sflüchtlin­ge. Und wie die Dinge sich entwickeln, ist es völlig unvorstell­bar, dass es zu einem internatio­nalen Vertrag kommt, in dem wir uns verpflicht­en, Menschen nur deshalb aufzunehme­n, weil sie daheim verhungern.

Eher werden wir uns mit dem Teufel zusammentu­n und nicht nur Zäune, sondern auch einen stabilen Abwehrschi­rm für den Luftraum bauen. Denn über kurz oder lang werden die Feinde mit Drohnen kommen. Die erfolgreic­hen Schlepper werden vielleicht Lifter heißen, weil sie es vermögen, die Flüchtling­e über die Zäune zu liften. Darauf sollten Johanna Mikl-Leitner und Hans Peter Doskozil sich besser jetzt schon gefasst machen.

 ?? AFP ?? Ein Flüchtling­smädchen bekommt Unterstütz­ung mit seiner Rettungswe­ste nach seiner Ankunft auf der griechisch­en Insel Kos am 13. August 2015.
AFP Ein Flüchtling­smädchen bekommt Unterstütz­ung mit seiner Rettungswe­ste nach seiner Ankunft auf der griechisch­en Insel Kos am 13. August 2015.
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