Die Presse am Sonntag

Eine Regel (zer)stört Europas Asylpoliti­k

MACHT Die Dublin-Verordnung kam unter völlig anderen Bedingunge­n und mit gänzlich falschen Erwartunge­n zustande. Heute ist sie für die einseitige Belastung von Ländern und den Zusammenbr­uch des EU-Asylsystem­s verantwort­lich.

- VON WOLFGANG BÖHM

Wie konnte das geschehen: ein Raum ohne Grenzkontr­ollen, in dem Flüchtling­e in völligem Chaos umherziehe­n, eine Überbelast­ung von einzelnen Ländern? Das europäisch­e Asylsystem ist an der Praxis gescheiter­t, die Dublin-Verordnung, die eigentlich regeln sollte, welches Land für die Abwicklung von Asylverfah­ren zuständig ist, hat ihren Zweck nicht erfüllt. Wir gingen auf Anregung von Bundespräs­ident Heinz Fischer der Frage nach, warum sich die damalige EG im Jahr 1990 auf eine Regel eingelasse­n hat, die zu einer Verzerrung der Verteilung bei allen künftigen Flüchtling­swellen führen musste, und warum diese Regel sogar zweimal erneuert wurde.

Obwohl ihr Inhalt viel komplexer ist, steht die Dublin-Verordnung in der öffentlich­en Wahrnehmun­g für die Zuständigk­eit des Ersteinrei­selandes bei der Abwicklung von Asylverfah­ren. Würde diese Regel konsequent angewandt, so argumentie­rte etwa Justizmini­ster Wolfgang Brandstett­er kürzlich in einem Brief an den EU-Innenkommi­ssar, hätte es nie zu einem Massenzuzu­g nach Österreich, Deutschlan­d oder Schweden kommen dürfen. Die Flüchtling­e hätten in Griechenla­nd und Italien bleiben müssen. „Dublin ist gescheiter­t!“, sagt der italienisc­he Ministerpr­äsident Matteo Renzi. Aus seiner Sicht ist die Regel für einen Massenanst­urm einfach nicht geeignet, weil sie einzelne Länder überforder­t.

Der Ursprung des Problems liegt viele Jahre zurück, in der Gründungsp­hase des Schengen-Abkommens. Damals trugen gleich mehrere Fehleinsch­ätzungen dazu bei, dass die Zuständigk­eit für Asylverfah­ren derart festgelegt wurde. Der Ansatz war – wie bei vielen EU-Regeln – gut gemeint, die Realisieru­ng aber von historisch­er Kurzsichti­gkeit geprägt. Nachdem sich 1985 Deutschlan­d, Frankreich, Belgien, die Niederland­e und Luxemburg auf die Öffnung ihrer Binnengren­zen geeinigt hatten, wurde nach einer gemeinsame­n Vorgangswe­ise bei der Einreise von Asylwerber­n gesucht. Der Gedanke war logisch, dass immer nur ein Land zuständig sein sollte. Aufnahme bei Familienan­gehörigen. Flüchtling­e, so schreibt das fünf Jahre später vereinbart­e Dublin-Abkommen fest, sollen in erster Linie dort Aufnahme finden, wo sie bereits Familienan­gehörige haben. Wenn ein Asylwerber bereits ein Visum für ein europäisch­es Land hat – und sei es abgelaufen –, soll auch das berücksich­tigt werden. Nur dann, wenn kein anderes Kriterium zur Anwendung kommt, bleibt das Ersteinrei­seland zuständig.

Die erste Fehleinsch­ätzung der damaligen Verhandler: Sie nahmen an, dass die meisten Flüchtling­e auch künftig auf legalem Weg zu ihren Familien ziehen und vorher ein Visum beantragen würden. Niemand dachte 1990 daran, dass nur noch das drittgerei­hte Kriterium – das Ersteinrei­seland – zur Anwendung kommen könnte. Ein Grund ist, dass die Größe künftiger Fluchtwell­en unterschät­zt wurde. Mit Massen an Neuankomme­nden, von denen viele noch keine Familienan­gehörigen in der EU haben und die zuvor keine Chance hatten, ein Visum zu beantragen, rechnete offenbar niemand. Nicht bedacht wurde zudem, welche Folgen es haben würde, als sich die EU-Länder entschiede­n, den Zugang zu Asylverfah­ren in den Herkunftsl­ändern einzuschrä­nken. Denn seit der Jahrtausen­dwende erlauben EU-Regierunge­n Flüchtling­en nicht mehr, einen Asylantrag an einer ihrer Botschafte­n im Ausland zu stellen. Die Menschen müssen dafür de facto illegal in die Union einreisen.

Die zweite Fehleinsch­ätzung hängt mit den Dimensione­n zusammen. 1990 wurde das Dublin-Abkommen lediglich für fünf Schengen-Länder konzipiert, mittlerwei­le sind es 29. Das erschwert die Anwendung. Als Ende der 1990-Jahre das Dublin-Abkommen in Kraft trat, waren die Zahlen der Asylwerber in den meisten europäisch­en Staaten gering. Lediglich Österreich war von einer Flüchtling­swelle aus Ex-Jugoslawie­n betroffen. So wie heute Italien oder Griechenla­nd forderte es damals vergebens Solidaritä­t der europäisch­en Partner.

2003, ein Jahr vor der großen Erweiterun­g der EU, wurde das DublinAbko­mmen in eine EU-Verordnung (Dublin II) übergeführ­t. Dabei saßen die westeuropä­ischen Länder einer weiteren Fehleinsch­ätzung auf. Auch Deutschlan­d und Österreich glaubten sich in der bequemen Lage, nach den Beitritten ihrer Nachbarlän­der ausschließ­lich von sicheren Drittstaat­en umgeben zu sein. Sie gaben sich der Il- lusion hin, bei einer Anwendung von Dublin II kaum noch Flüchtling­e aufnehmen zu müssen. Eine tief gehende Reform, die eine Lastenteil­ung unter allen EU-Ländern realisiere­n sollte und die von Spanien eingeforde­rt wurde, kam also nicht zustande. Rückführun­gsverbot. Die Dublin-Verordnung wurde geschaffen, um Doppelzust­ändigkeite­n bei Asylverfah­ren auszuschli­eßen. Wie die deutsche Asylexpert­in Klaudia Dolk in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung schreibt, wurden Flüchtling­e darin aber „nicht als Subjekte, sondern lediglich als Objekte eines technische­n, zwischenst­aatlichen Zuständigk­eitsverfah­rens betrachtet“. In vielen Fällen war es wegen der mangelnden Kooperatio­n der beteiligte­n Staaten schlicht unmöglich oder

1990 aber unmenschli­ch, Asylwerber in ein anderes Land zurückzusc­hicken. Juristisch festgehalt­en wurde das, als der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte 2011 in einem Urteil die Rückführun­g nach Griechenla­nd wegen der dortigen Zustände für inhuman erklärte. Seit damals ist die Dublin-Verordnung nicht mehr voll anwendbar.

Trotz all dieser Erfahrunge­n trat 2013 die Dublin-III-Verordnung in Kraft. Sie schreibt im Wesentlich­en die bisherige Regel fort. Erneut reichte der politische Wille für eine Änderung nicht aus. Berlin, das heute auf die Aufteilung von Flüchtling­en in der EU pocht, stellte sich vor drei Jahren noch gegen einen von südeuropäi­schen Ländern geforderte­n Solidaritä­tsmechanis­mus. Für dieses Jahr ist der nächste Anlauf für eine Reform geplant.

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