»Der EU fehlt der Wille«
Kroatiens Präsidentin Grabar-Kitarovi´c beklagt, dass Europa in der Flüchtlingsfrage Schwäche gezeigt hat, obwohl es genug Kraft für Lösungen hätte.
Europa hatte zuletzt große Probleme bei der Bewältigung der Flüchtlingsfrage. Zeigt es sich hier von seiner ohnmächtigen Seite? Kolinda Grabar-Kitarovi´c: Wir haben einen Mangel an gemeinsamem Willen und Solidarität gezeigt. Wir haben darin versagt, das Potenzial der EU zu nützen, um die Migrationswellen zu managen, noch bevor sie losbrachen. Die Botschaften, die wir zu Beginn ausgesandt haben, waren für die Migranten verwirrend. Wir haben Europas Uneinigkeit und Schwäche gezeigt, und das hat auch die Schleppernetzwerke ermutigt. Wir kämpfen etwa um eine Verteilungsquote für Flüchtlinge. Das ist zu hinterfragen. Denn der Großteil der Menschen ist mit dem Ziel gekommen, in bestimmte Länder wie Deutschland zu reisen. Wir konzentrieren uns viel mehr auf die Auswirkungen der Krise als auf ihre Ursachen. Wir müssen uns Fragen wie Armut, Krieg und Klimawandel widmen – jenen Dingen, die Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Dass wir eine begrenzte Zahl von Personen in der EU aufgenommen haben, überdeckt das generelle Desinteresse in der EU an der Lösung dieser Ursachen. Aber ist Europa mächtig genug, um die Ursachen der Flucht zu bekämpfen? Ja. Das Problem ist aber, dass wir derzeit uneins sind. Das Schengen-System scheitert gerade. Was kommt danach? Das Ende der Reisefreiheit in der EU? Wir haben die Kraft, aber uns fehlt der Wille. Wir haben auch zu spät damit begonnen, uns um die Krise in Syrien zu kümmern. Die EU könnte viel stärker sein. Leider haben wir gezeigt, dass unsere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht kohärent ist. Fällt die EU in der Form, wie wir sie heute kennen, auseinander? Ich denke nicht, dass die EU jetzt auseinanderfallen wird. Aber wenn wir in dem derzeitigen Geiste fortfahren, mit dem Finger aufeinander zu zeigen und die Probleme auf den anderen zu schieben, wenn wir beginnen, Grundfreiheiten in der EU auszusetzen, dann bewegen wir uns in Richtung weniger Europa – und das, obwohl wir gerade jetzt mehr Europa brauchen würden. Sehen Sie Analogien zwischen der Lage in der heutigen EU und im Jugoslawien der 1980er-Jahre, bevor es zerfiel? Es gab in Jugoslawien eine Wirtschaftskrise und Streit zwischen den Republiken. Der Norden beschwerte sich, angeblich zu viel Geld in den Süden transferieren zu müssen. Ja, es herrschte auch in Jugoslawien Uneinigkeit. Aber es gibt einen großen Unterschied: Die EU ist eine Allianz demokratischer Staaten, die nach demokratischen Prinzipien funktioniert. Jugoslawien war ein autoritäres System, das die Meinungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht, das den Republiken gemäß der Verfassung von 1974 eigentlich zustand, unterdrückte. Ende der 1980er-Jahre kam dann die großserbische Politik des Slobodan Miloseviˇc.´ Ich sehe derzeit keine europäische Nation, die andere dominieren oder deren Territorium besetzen will. Das bedeutet aber nicht, dass die Uneinigkeit in der EU nicht gefährlich ist. Das ist eine existenzielle Frage für die EU. Sie machen sich für eine Nord-Süd-Kooperation in Europa stark. Was kann diese in der Flüchtlingsfrage bewirken? Es geht um meine Initiative, den AdriaRaum mit dem der Baltischen See und des Schwarzen Meeres zu verbinden. Es ist eine Plattform für gemeinsame Projekte, etwa bei Energie und Ausbau der Infrastruktur. Der Beitrag, den diese Initiative in der Flüchtlingskrise leisten kann, ist marginal. Die Krise muss auf gesamteuropäischer Ebene gelöst werden. Keines unserer Länder dieser Nord-Süd-Kooperation ist für die Flüchtlinge ein Wunschzielland. Sie waren stellvertretende Nato-Generalsekretärin. Die Nato soll nun an der griechischtürkischen Seegrenze eingesetzt werden. Ist eine Verteidigungsallianz die richtige Organisation zur Lösung der Flüchtlingsfrage? Es tut mir leid, dass die Nato nicht schon früher einbezogen worden ist. Die Nato kann bei der Überwachung der Seegrenzen helfen und dabei auch Leben retten. Damit können wir gleichzeitig eine starke Botschaft an die Menschenschmuggler senden, dass wir unsere Grenzen schützen. In der Flüchtlingsfrage verlassen sich Nato und EU auf einen schwierigen Partner: die Türkei. Türkische Streitkräfte schossen ein russisches Flugzeug ab. Ankara hat gedroht, in Nordsyrien einzumarschieren, was zu einem Zusammenstoß zwischen dem NatoLand Türkei und Russland führen könnte. In Bezug auf Russland müssen EU und Nato auf das Selbstbestimmungsrecht jedes Landes pochen, auf die territoriale Unversehrtheit und das Recht, die eigene politische Zukunft zu bestimmen. In Syrien müssen wir aber mit Moskau kooperieren: Es gibt nur eine politische Lösung, bei der wir eine gemeinsame Sprache auch mit Russland und der Türkei finden müssen. In Bosnien und Herzegowina konnte man mit dem Dayton-Abkommen das Blutbad stoppen, so wenig perfekt Dayton auch ist. In Syrien wird das nicht über Nacht gehen. Denn die Krise ist sehr viel komplizierter als alles, was wir im ehemaligen Jugoslawien gesehen haben.