N den Abgrund!
auf Lerchenau im „Rosenkavalier“von Richard Strauss. Regie führte Harry Kupfer. schaftliche Auseinandersetzung aus. Das ist bereits politisch. Neben Stückentwicklungen zu aktuellen Fragen, wie in „Lost and Found“von Yael Ronen zum Thema Migration, findet sich ein Projekt vom Jungen Volkstheater für junge Bürgerinnen und Bürger, gespielt von Zwölf- bis 17-Jährigen aus neun Herkunftsländern über Zukunftsfragen. Deren Sehnsucht nach einem Ausblick nach oben überprüft die Funktionsweise von Demokratie und wirft die Frage auf, inwieweit jeder und jede am gesellschaftlichen Reichtum partizipieren kann. Ich möchte jetzt gern antworten: unbedingt, und zwar in der Weise, dass Theater Bewusstsein bildet und verändert. Mit verändertem Denken fangen Veränderungen an. Einen Nachweis aber, dass zum Beispiel Bertolt Brechts sozialkritische Stücke, die von Millionen Menschen in aller Welt gesehen worden sind, die Menschen, die Gesellschaft, die Politik, auch nur ein wenig besser gemacht haben, ist schwer zu führen. Trotzdem bin ich überzeugt, dass kaum ein Mensch einen Theatersaal genau so verlässt, wie er ihn betreten hat. Mal eine Gegenfrage zum allgemeinen Verständnis: Gibt es eine Niedrigkultur, und wenn ja, wie sieht es da unten aus? In der flachen Ebene des Bedeutungssumpfes: tumb und schmutzig? Oben hui und unten pfui? Zweifellos gab es in den frühen 1950ern, noch im Schatten des gloriosen 1000-jährigen Reiches, eine naserümpfende, fracksteife Hochgesellschaft, die wilden Jazz und anarchischen Rock so sehr verachtete, dass ihnen die Magensäure aus den Ohren blies. Auch solche Schmutzfinken wie die Blutmystiker Nitsch und Mühl, Tinnitusästheten wie die Tonsetzer aus Darmstadt, elektronische Schreihälse und Harmonieverdreher . . . Oder solche Fett- und Filzpropheten wie Herr Prof. Beuys . . . Oder der verdrehte Ideologe eines Körpertheaters mit seinen asiatischen Gerüchen wie Herr Grotowski . . . Alle damals – apage satanas – in Acht und Bahn geschlagen, Nitsch saß sogar ein! Solch ekliger Schmutz auf hehre deutsche Kunst, die damals so langweilig war wie ein Bettlaken vor der Orgie auf Schloss Prinzendorf. Damals also die Nase gerümpft, heut hoch gehoben in einem Atem mit solchen Kulturhelden wie Mozart, Bach, Beethoven, Rodin, Rubens, Reinhardt, Lüpertz, Kiefer, Rihm, Nono, Sciarrino . . . Hoch und niedrig, so ein Blödsinn! Alles ist da, alles erscheint, manches bleibt, anderes vergeht. Manches wird schön, ande- res hässlich, alles freilich im weitherzigen Bezirk der Kultur und herrlichen Gefilden. Und immer schwimmt die Zeit davon. Als Aischylos’ Tragödie „Die Perser“472 v. Chr. aufgeführt wurde, konnte der Dichter nicht ahnen, was er damit anrichtete. Es war wohl das erste Stück Theater, das uns überliefert ist, und dann solch ein radikaler Text, der Maßstäbe für ein und allemal setzte, für jede ästhetische Erscheinung. Ausgrenzend nennen wir es politisches Theater. Kannte Aischylos schon eine griechische Fassung des 3. Mose 19, Vers 18, des alten jüdischen Buches der Weisheit, der Bibel: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“? Diese wirkliche Botschaft, Kern allen politischen Handelns unserer abendländischen Kultur, die ihren Ursprung im mesopotamischen Zweistromland hat, das heißt heute Naher Osten. Und manch dummer Schreihals sollte sich sehr klarmachen, woher eigentlich diese Weisheit kommt! Die Griechen hatten dereinst die persische Flotte bei Salamis vernichtend geschlagen. Aischylos, der Grieche, beschreibt in diesem ursprünglichen Antikriegsstück den Untergang des Reiches des großen Königs Xerxes. Aischylos beschreibt den Untergang der Gegner, von Empathie und Mitleid geprägt: „ . . . wie dich selbst!“Das war wohl die Geburt einer langen Kette von Stücken bis hin zu Brecht, Heiner Müller, von Opern von Monteverdi, Mozart, Rihm und Nono. Die Revolutionen haben sich auf den Theatern nie eingefunden. Manifeste stehen auf dem Papier und sind Abzüge für die Zukunft. Das Theater, die Oper sind die reinsten Ereignisse einer Gegenwart, die so schnell verfliegt, wie das Tausendstel eines Wimpernschlags. Die Reflexion der anderen, die Aischylos stiftet, zeigt diese im eigenen Spiegelbild, eine geniale Dramaturgie. Das ist politisches Theater sui generis. Auch Kunst ist also politisch, weil sie die Sprache der Gesellschaft ist, immer der Aufklärung verpflichtet. Wohl nicht im Sinn der cathedra, aber mitten im Sinn der Herzen. Spielpläne sollen die Bestrebungen der Zeiten wiedergeben, in denen wir leben. Regisseure, Dirigenten, Musiker, Schauspieler sollen ferne Zeiten in unsere heutigen Sprachen übersetzen, durch das Spiel, auch durch das Beispiel. So wird es politisch, weil es oft aus weiter Ferne heute zündet. Kunst verändert nicht die Welt, aber doch das Bewusstsein von ihr. Kunst verändert Denken und Fühlen unserer Welt durch ihre verschiedenen Erscheinungsformen, die uns alle im Zentrum bewegen. Welcher Reichtum der Anschauungen hat sich uns angehäuft. So hoch wie der Turm von Babel und auch so chaotisch. Zeitgemäß kann nur sein, was sich auch mit der Tradition beschäftigt, mit dem kulturellen Erbe, bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie sich heute zeigt. Das gilt für das gesamte kulturelle Schaffen. „Hochkultur“ist ein belasteter Begriff, weil er im heutigen Gebrauch oft einen elitären Anstrich hat, was mit der Instrumentalisierung der Kultur durch die Politik zu tun hat. Wo zum Beispiel Geld gespart werden soll, muss die Hochkultur zu etwas Abgehobenem, Elitärem gemacht werden, um den Spardruck zu legitimieren. Das vermeintlich Abgehobene als das moralisch Verwerfliche, das sozial Ungerechte. Das hat eine durchaus zynische Note, denn in letzter Konsequenz würde es bedeuten, dass es keine Notwendigkeit für herausragende künstlerische Leistungen mehr geben soll; für eine anspruchsvolle und komplexe Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie die Künste zu leisten imstande sind. Die eigentliche Frage lautet eher: Ist eine Politik zeitgemäß, die die Kultur, und damit auch die Hochkultur, für ihre eigenen Versäumnisse in Haft nehmen will? Auch der Begriff der „politischen Kunst“wird arg strapaziert, womöglich gerade, weil er schwer fassbar ist. Was misstrauisch macht, ist der Legitimationsdruck, der heute auf den unterschiedlichsten Künsten liegt und der bisweilen zu einer Verengung der Sicht auf deren Möglichkeiten führt. Alle Kunst kann nur in einem Umfeld gedeihen, das freies Denken und Handeln ermöglicht und ohne Imperative auskommt. Als Intendantin eines Schauspielhauses weiß ich, dass man Theaterstoffe nicht verordnen kann, sie müssen im Austausch, in offener Diskussion gefunden werden. Da ist die Suche nach der Dynamik der Gegenüberstellung von traditioneller Theaterliteratur mit neuen Sichtweisen genauso wichtig wie das Erkennen der Interessen der einzelnen am Theater tätigen Künstler. Es kann weder eine Grundrezeptur für Spielpläne geben, die zwischen Berlin, London, Zürich und Wien dieselbe wäre, noch eine, die festlegt, ab wann Theater politisch ist. Im „Weltveränderungsanspruch“liegt etwas Totalitäres, weil er immer voraussetzt, man wisse genau, wie die Welt zu verbessern sei. Wohin das führen kann, zeigen die politischen und wirtschaftlichen Katastrophen der Vergangenheit und der Gegenwart. Was Kunst kann, ist, unsere Wahrnehmung herauszufordern und zu schärfen und damit die Grundlage für Möglichkeiten der Veränderung zu schaffen. Kunst ist hochkommunikativ, sie verlangt unnachgiebig nach unserer Aufmerksamkeit und unserer Fähigkeit, die Welt zu hinterfragen. Der blinde Wachstumsund Optimierungsanspruch des kapitalistischen Wahns aber taugt für keine Kunstform.
Jürgen Flimm
Peter Ruzicka
Nur ein kleines Apercu¸ zu der von Ihnen aufgeworfenen Fragestellung nach der Teleologie der Kunst: Die Welt verändern können Wissenschaftler, Politiker, Revolutionäre. Sie greifen in den Weltlauf ein, bewirken historische Veränderungen, die für Generationen wirksam sein mögen. Kunst vermag freilich im politisch-gesellschaftlichen Sinn nichts zu verändern. Sie kann die Wirklichkeit nicht abbilden, was Voraussetzung solcher Veränderung wäre. Und doch bilden ihre kreativen Prozesse einen Nährboden, auf dem sich Veränderungen des Denkens und Handelns entwickeln können. Ohne dieses gesellschaftliche Substrat der Kunst, ohne diesen Nährboden der künstlerischen Sichtweise, verliefen alle Weltveränderungsprozesse in dieselbe Richtung, nämlich in Richtung Abgrund. Kunst ist eine stets erneuerbare Energie, die ein Gegengewicht zum geistlosen Weltlauf, zum systemimmanenten Versagen darstellt, ein ästhetisches Mittel zur Differenzierung und Urteilsschärfung, das uns helfen kann, Entwicklungen besser zu begreifen und unsere Weltwahrnehmung zu steuern.